Gibt’s ja gar nicht!


Eben wollte ich meinen Eintrag schreiben und da ruft das Fräulein an und erzählt mir so Hanebüchenes, dass man nur noch schreien möchte. Ganz übel hat man meiner lieben Perle mitgespielt. Unglaublich. Fluchen hilft ein wenig, aber eigentlich müssten Köpfe rollen. UNGLAUBLICH!!!! Armes, armes Fräulein Krise – geht mal rüber zu ihr und tröstet sie. Sie hat auch nichts zu Essen zu Hause. Ernährt sich von Pfefferminz…tzzzz.

Da kann ich jetzt gar nicht mehr schreiben, wie es eigentlich recht nett bei mir heute war und, dass ich einen neuen Stundenplan bekommen habe, der mir meinen Alltag wesentlich verbessert. Man staunt und wundert sich.

Schreibe ich eben über das Fräulein. Die braucht jetzt extremen Zuspruch. Das gibt es doch nicht, dass sie, meine Heldin, mein Vorbild, mein Idol, meine Mutter Theresa der Pädagogik, meine Methoden-Marilyn Monroe, meine Didaktik-Diva, meine Teaching-Queen, meine Unterrichts-Göttin… dass auch nur jemand an ihren Fähigkeiten zweifeln könnte… ihr müsstet sie mal sehen, dieses nicht-tot-zu-kriegende Stehaufmännchen. Sie ist wie der 70er Jahre Vogel, den man sich aufs Glas tun konnte und der immer und immer hin und her wippte und seinen Schnabel ins Getränk tauchte.

Sie gibt NIE auf. Sie weiss IMMER Rat. Sie hat STÄNDIG gute Ideen. Sie gehört an die Uni. Sie sollte alle Lehramtsstudenten in ganz Deutschland ausbilden – es gäbe überhaupt keine Probleme mehr. Wir würden Pisa jedes Jahr gewinnen.

Mein armes liebes Frl. Krise nichts von dem heute hast du verdient. Alle anderen brauchen einen gehörigen tritt in den Arsch und wenn sie sich dabei umdrehen – umso besser!!!

Letztendlich gewann das Dschungelcamp


Gestern – Fernsehstress! Wir gucken natürlich das Dschungelcamp. Special Edition; Directors Cut Version. Dauert länger als sonst. Aber ich will doch auch Frau Sarrazin auf dem Ersten gucken. Ich schalte also hin und her. Im Dschungelcamp gibt es herrliche Gruppendynamik zu beobachten.
„Aber schalt mal um, ich will umbedingt die Sarrazin sehen!“ (hihi „die“ Sarrazin – klingt wie die Schüler, die den falschen Artikel benutzen, weil es doch bisher immer „der“ Sarrazin hieß.)
Aber was das? Da ist der Pilawa und die machen so ein Quiz. Ich dachte die talken. Frau Maischberger sagt gerade: „Und jetzt eine Matheaufgabe aus dem Grundschulbuch, dass uns Frau Sarrazin netterweise zur Verfügung gestellt hat.“ Laaaaaangweilig!!! Im schlimmsten Fall können sie das jetzt nicht lösen. Also wieder zurück zum Dschungelcamp. Mist, aber ich möchte auch den freakigen Punk-Schulleiter mal sehen, ich hab‘ schon viel über den gelesen. Aber im Dschungelcamp mobbt gerade Matthieu, das darf man auch nicht verpassen. Das muss ich doch morgen wieder mit Frl. Krise analysieren.

Dann die Lösung: Ich gucke mir die Sarrazin morgen im Internet an und dann kann ich gleich drüber schreiben.

Mist, jetzt ist morgen und ich habe das Internet noch nicht bemüht und momentan auch keinen Bock darauf das Gelaber zu sehen. Der Deutschlehrer kam zum Kaffeetrinken und ist eben erst gegangen.

„Aber du wolltest doch drüber schreiben.“ sagt der Freund „Bei WordPress gibt es einen Artikel über die Sarrazin und der hat 50 Kommentare und die pflichten ihr alle bei. Da musst du doch was dagegensetzen.“

„Ach weisste, ich muss das gar nicht sehen, weil ich sowieso genau weiß, was die da sagen werden: Also erstmal der Pilawa – Bildungsexperte, weil er ja mit zwei schulpflichtigen Kindern zusammenwohnt, die er nachts beim Schlafen beobachten kann. Der wird sagen, dass die Schulen besser sein könnten, und die Eltern sollten und blah blah blah. Der hat wenig Ahnung, würde ich sagen, weil der ja nur die Schule seiner Kinder kennt und die ist garantiert voll toll. Dann Gina-Lisa – Expertin ist sie ja eigentlich auf dem Gebiet: „Sarah hat schon mal mit mir Fleisch gegessen und es hat ihr geschmeckt.“ Sie wird die ganze Zeit sagen: Kieka, ich habe voll fette Dinger und komische blonde Haare und ich hab‘ trotzdem was in der Birne. Ich bin schlauer als ich wirken will. Gestelzt daherreden wird sie und sich wahrscheinlich ab und zu verhaspeln. Dann dieser Wissenschaftstyp, der immer so manisch begeistert über Physik redet. Der wird einen von angeborener Neugier und Begeisterung erzählen, dabei wird er unangenehm übertrieben aus dem Häuschen sein und dauerhaft grinsen. Mit Schule hat der nix zu tun und kann eigentlich auch nicht mitreden.

Dann ist da noch der schlauste Mann von Deutschland – weil er bei Günther Jauch eine Million gewonnen hat – was der sagen wird ist mir ein Rätsel. Schmuckloses schmückendes Beiwerk. Der coole Schulleiter soll den punkigen Gegensatz zu der „strengen“ Frau Sarrazin bilden. Der wird voll moderne demokratische Ansätze vertreten, mit denen wir alle – ich auch – übereinstimmen können.

Und dann Frau S., sitzt da, die Ruhe selbst. Sie will sehr menschlich wirken. Kontrolliert wird sie die Fragen beantworten, Vorwürfe runterspielen und sagen, dass sie die Leute, die ihr jetzt Vorwürfe in der Presse machen gar nicht kennt. Dann wird sie ihre Strenge Konsequenz nennen und alle werden sie ihr irgendwie beipflichten. Der Zuschauer soll denken: na, irgendwie hat sie doch recht. Aber Achtung!!! Sie ist ein Wolf im Schafspelz! Sie ist nicht die liebe Lehrerin, die sie darstellen will. Sie ist ein harter Hund. Die brüllt garantiert voll oft rum und irgendwie wirkt sie sehr schnippisch. Keine Sekunde bezweifel ich, dass die Schüler Angst vor ihr haben. Hallo!!! Die unterrichtet an einer Grundschule – voll die kleinen Kinder. Die weinen zu Hause. Und sie sitzt mit Thilo beim frühstück und lästert über die Migranten. Jahrelang, bis er endlich ein Buch schreibt. Und jetzt wird sie auch noch eins schreiben und dann sind sie Doppelmillionäre und sie hört auf zu arbeiten.

Lasst euch nicht täuschen und denkt mal darüber nach: SARRAZIN – da steckt doch SARAH schon drin!

Culture Clash


„Aber was habt ihr in dem Interview gehört?“
„Frau Freitag, das versteht man gar nicht.“
„Jaaaa, alles Englisch, ich habe gaaaar nichts verstanden.“

„Kinder, ihr wollt doch die Realschulprüfung machen. Wie wollt ihr denn die Englischarbeit schaffen, wenn ihr hier schon nichts versteht?“

„Abo, das ist doch was anderes.“

„Warum ist das was anderes? Da werdet ihr auch einen englischen Text hören und Aufgaben dazu lösen müssen. Und da stoppt niemand das Band nach jedem Satz – so wie ich eben gerade. Also Elif, tell us what the woman said about facebook.“

„Dass man chatten kann und mit Pinnwand…“

„Elif, in English please!“

„Mann, Frau Freitag. She say you can chatten and the pinwand.“

„No that’s not true. Don’t tell us what you think or know about facebook. Please tell us what the woman said.“

„Aber ich habe nichts verstanden.“

„Dann Ayla. Can you tell us?“

„Kein Plan.“

So geht das die ganzen Stunde. Ronnie macht erst gar nicht mit. Mit den Worten „Facebook ist behindert.“ verweigert er seit Beginn der Unterrichtseinheit jegliche Mitarbeit.

Um die Schüler bei der Stange zu halten, bzw. um sie erst mal in die Nähe der Stange zu bringen, setze ich mich auf einen leeren Tisch und fange an zu erzählen. Am Tonfall erkennen sie, dass es was persönliches wird. Alle sind sofort ruhig und starren mich gebannt an.

Ich fasse kurz den Inhalt des Interviews (das ja anscheinend NIEMAND außer mir verstanden hat) zusammen: „Die Frau beschreibt, wie sich die Kommunikation in den letzten Jahren und Jahrzehnten verändert hat. Sie spricht über das Web 2.0, über facebook und über mobile phones. Wie war das denn früher, als es noch kein Internet gab? Peter, das hatten wir letzte Woche – seit wann gibt es das Internet? Ja, genau sein 20 Jahren. Als ich also so alt war wie ihr gab es das nicht. Fragt mal eure Eltern, wie das war. Wir saßen immer nur zu Hause haben uns gelangweilt und hatten nicht 500 Freunde und eine Pinwand. Niemand wußte, was ich denke oder was ich gerade mache. Und es gab auch keine Handys. Wenn ich mal telefonieren wollte, dann konnte mein Vater an den anderen Apparat gehen und dann war ich weg und mein Vater hat mit meinen Freunden gesprochen.“

Ich lese Entsetzen in den Gesichtern der Mädchen bei der blossen Vorstellung, ihr Vater könnte mit auch nur einem ihrer 500 Freunde telefonieren.

„Und es gab ja auch keine Emails. Da gab es nur Briefe.“

„Ja Briefe, wir haben früher auch immer Briefe nach Türkei geschickt. Voll schön. Mit Fotos.“ schwärmt Elif.

„Und Elif, frag mal deine Mutter, wie teuer es früher war, dahin zu telefonieren.“

„Wieso nimmst du ALICE, vallah, is nicht teuer.“ sagt Bilal.
„ALICE is voll Abzocke.“ gibt Esra zu bedenken.
„Was Abzocke?“

Ich merke, wir schweifen ab, ich wollte eigentlich zum Thema Brief.

„Also, ich hatte damals einen Freund in Amerika. Wir haben uns immer Briefe geschrieben.“

„Voll schön!!!!“ säuselt Elif mit verklärtem Blick.

„Jaja, voll schön. Aber die haben immer voll lange gebraucht, bis sie ankamen. Und wenn ich z.B. geschrieben habe: Ach, du fehlst mir so, ich vermisse dich…usw und dann dauert der Brief eine Woche hin und der Antwortbrief dauert auch noch mal einen Woche und in der Zeit lerne ich einen anderen Jungen kennen…“

Jetzt starren mich alle Mädchen an. So wollten sie die die Geschichte nicht haben.

„Na ja, heute kann sowas ja nicht mehr passieren.“ sage ich schnell. „Heute schreibt man schnell eine Email – hallo, sorry ich hab‘ ’nen Neuen! und das bekommt der andere dann in Echtzeit.“

Ich grinse in die Runde. Niemand sagt was. Dann klingelt es. Langsam schlurfen sie raus. Vielleicht hätten wir doch die Grammatikaufgabe im Buch machen sollen. If-clauses.

Gefehlt und gezählt


„Wollen wir die Aufgabe im Buch jetzt noch machen oder soll ich was zu euren Fehlzeiten sagen?“
„Jaaaaaa, Fehlzeiten!“ rufen alle begeistert.

„Eure Fehlzeiten… puhhh – die sind echt schlimm. Viel Spaß beim Bewerben. Ich würde euch nicht einstellen!“

Betrübte Gesichter. Nachdenkliche Ruhe.

„Also, so steht das auf euren Zeugnissen: Erst steht da Tage und dann: davon unentschuldigt, dann Stunden und: davon unentschuldigt und dann Verspätungen. Soll ich mal eine Rangfolge anschreiben?“

Wir haben noch 10 Minuten und die wollen sinnvoll gefüllt werden. „Wer steht denn wohl ganz oben?“
„Christine!“ „Marcella!“ „Ich!“

Ich schreibe Namen an die Tafel: Marcella, Ayla, Christine, Emre,…

„Ähhh, kann gar nicht sein. Er hat mehr gefehlt als ich.“
„Gar nicht. Du hast öfters gefehlt.“

Ich habe nur einen Schüler, der nie unentschuldigt gefehlt hat und immer pünktlich war. Ich male ein dickes Herz hinter seinen Namen. „Den würde ich sofort einstellen.“

Dann lese ich die unentschuldigten Tage und Stunden vor. Meine Klasse kommt gerne in die Schule denn. Sie sind keine typischen Schwänzer, die tagelang zu Hause bleiben oder sich im Center rumdrücken. Ich habe nur zwei Schüler, die 4 Tage unentschuldigt gefehlt haben und bei denen weiß ich ganz genau, dass sie krank waren und nur vergessen haben ihre Entschuldigungen abzugeben.

Dann gibt es drei mit 3 Tagen ue, mehrere mit 2 Tagen und eine Reihe mit einem unentschuldigten Tag. Acht Schüler haben gar keinen Tag an dem sie nicht von ihren Eltern für ihr Fehlen entschuldigt wurden. Da könnte man ja meinen: Super, hört sich doch gut an. Aber nix da! Auch wenn die Schüler in der Schule sind, heißt es noch lange nicht, dass sie auch zum Unterricht gehen. Marcella hat z.B. über 70 Stunden geschwänzt. Meistens die ersten beiden morgens, dann aber auch gerne mal die letzten. Es gibt nur sechs Tage an denen sie weder zu spät kam oder eine Stunde abgehängt hätte. Da sind allerdings zwei Wandertage und eine Exkursion dabei.

Bei 19 Schulwochen kommen schnell mal 16, 17 unentschuldigte Stunden zusammen. Das hört sich dann viel an, aber eigentlich heißt das nur, dass man einmal in der Woche morgens verschlafen hat oder keine Lust auf die letzte Stunde hatte.

Aber das Geschrei ist groß. Einige Schüler realisieren wahrscheinlich erst jetzt, dass sich 25 geschwänzte Stunden auf dem Zeugnis schlecht machen werden bei der Bewerbung.

In der Pause stehen drei empörte Schüler bei mir: „Ich habe bestimmt nicht sooo viele Stunden gefehlt. Ganz sicher nicht!“ Ich verspreche, alles noch mal nachzurechnen.

In meiner Freistunde zähle und zähle ich und siehe da: Bei denen, die sich so massiv beschwert haben, habe ich mich doch tatsächlich auch massiv verrechnet. Die eine hatte das Pech auf der Liste direkt unter Ayla zu stehen und da bin ich wohl in der einen oder anderen Woche beim Zählen in der Zeile verrutscht.

Ich gehe also an den Computer und gebe die veränderten Zahlen ein. Plötzlich überkommt mich eine große Milde und ich denke: Na, werde ich mal nett sein und jedem zwei unentschuldigte Stunden abziehen. Bei fünf statt sieben mag das noch was bringen, aber ob man nun 35 oder 33 Stunden geschwänzt hat wird den Arbeitgeber wohl kaum interessieren, oder?

Der Stress stresst mich


Toll, nach einem längeren Telefonat mit dem Fräulein habe ich jetzt einen Magendurchbruch. Stand bei Wikipedia. Hat sie mir vorgelesen. Na ja, also Durchbruch habe ich wahrscheinlich noch nicht. Aber irgendwas wird mit dem Magen schon sein. Und jetzt denke ich über unseren Beruf nach. Ist ja schon stressig. Wie wirkt sich denn der Stress auf meinen Körper aus? Ihr mitlesenden Ärzte – jetzt könnt ihr euch ruhig angesprochen fühlen und mal euren medizinischen Senf dazu ablassen. Hier meine Fragen: Merke ich Stress immer, oder kann es auch sein, dass ich an einem Tag, an dem ich denke – lief doch alles super – trotzdem Stress ausgesetzt war, der sich dann in den Magen frisst, oder ist dann nichts. Wie ist das mit dem Oi-Stress?

Ist das eigentlich schädlich – also gesundheitlich schlecht für meinen Körper, wenn ich Mert, Mohamad und Mervin unterrichte – sprich mindestens fünf Mal in 45 Minuten richtig austicke und aus voller Lunge rumbrülle. Ist kontrolliertes Ausflippen nur für die Stimmbänder schädlich oder auch für den Magen. Wie sieht es mit Monoernährung aus – hauptsächlich Brot und nie Obst. Rauchen…na, da gibt es wahrscheinlich nichts Neues drüber. Kann man den Magen schonen – mal abgesehen von kein Kaffee trinken und nicht rauchen.

Nochmal zu dem Stress. Was passiert denn mit einem, wenn man dauerhaft den SiebtenStress ausgesetzt ist? Und vor allem, wie lange dauert es, bis was passiert und ist das so ein „kann – muss aber nicht“?

Ach, jetzt stresst es mich schon, darüber zu schreiben.

Gestern war ja auch witzig gewesen – sagt Burak aus der Siebten: „Frau Freitag, kennen Sie den: Was sagt der Japaner vor der Mülltonne?“

„Ähhhh???? Japaner?“

„Ja, vor der Mülltonne?“

„Burak, das ist ein uralter Türkenwitz, der funktioniert gar nicht mit Japanern.“

„Ja, ja, das ist Türkenwitz.“ schreit Emrah aufgeregt von hinten. „Sagt der Türke: Türkendisko. Oder kennen Sie: Was ist türkische Familie vor Mülltonne?“

Alle brennen darauf, das zu erfahren. Emrah genießt die Aufmerksamkeit und sagt nach einer langen Pause: „Famlienfoto. Oder was sagt der eine Türke zu den andern Türke…“

Ich verstehe die Welt nicht mehr, lehne mich zu Dragan und flüstere: „Häh, die sind doch beide türkisch, warum erzählen die denn diese Türkenwitze?“ Aber ich weiss auch, wenn ich jetzt versuche zu erklären, warum diese Witze nicht mit Japanern funktionieren, sondern ihren Ursprung in der Zeit der Anwerbeabkommen haben,das ich dann wieder eine Diskussion über das Trümmerwegräumen nach dem zweiten Weltkrieg starte. Ich warte also einfach, bis ihnen keine Witze mehr einfallen und gebe dann das Signal zum Aufräumen.

Neues aus der pädagogischen Trickkiste

Mein neues Credo: Motivation durch gezielte Demotivation. Alle aquarellieren fröhlich vor sich hin. Die Stimmung ist gut. Die Schüler sind ausgesprochen nett, zuvorkommend und höflich. Nur Ronnie sitzt vor mir und weigert sich mit der Aufgabe zu beginnen. Ich fordere ihn mehrmals auf, dann ignoriere ich ihn für den Rest der Stunde.

„Abdul, bist du eigentlich noch am Realschulabschluss interessiert?“
„Klar, sicher.“
„Und ist dir auch bewusst, dass du dich noch SEHR verbessern musst, wenn das noch was werden soll?“
„Hmmm, ja.“
„Soll ich dir mal aufschreiben, wie dein Zeugnis im nächsten Halbjahr aussehen muss, damit du es noch schaffst?“ Er nickt.
„Also, pass auf!“ Ich schreibe groß Abdul an die Tafel und unterstreiche seinen Namen. „Du weißt ja, dass du in den meisten Fächern insgesamt – also in beiden Halbjahren zusammen – auf 14 Punkte kommen musst. Das heisst z.B. für Deutsch, dass du da 8Punkte brauchst. Eine drei. Schaffst du doch locker. In Englisch brauchst du sogar eine zwei – mindestens 9Punkte. Aber das sollte ja kein Problem sein, denn eine vier hast du ja schon. Hups, Mathe da müsstest du 11 Punkte haben also eine eins.“ Ein kollektives Lachen der ganzen Klasse. „Ach Abdul, lass dich nicht verunsichern. Das schaffst du schon. In der Grundschule warst du doch das Mathe Känguru. Wo hoppelt das eigentlich jetzt? Okay, weiter. Bio und Physik wird nicht so das Problem – auch jeweils eine zwei und in Chemie – oohhh, das wird haarig, da bräuchtest du 13Punkte. Das wird wohl nichts, denn da kannst du ja nur 12 Punkte bekommen.“ Ich stelle mich neben die Tafel und lasse die Zahlen ein wenig nachwirken. Abdul sagt gar nicht mehr. „So, jetzt sag‘ mal in welchen Fächern du dich wahrscheinlich nicht mehr verbessern kannst. Denn zwei können wir streichen.“
„Na, ich denke in Chemie und in Mathe.“
ich streiche die beiden Fächer weg. „Voila, hier Abdul. So muss dein zweites Halbjahreszeugnis aussehen. Geht doch, schaffst du schon. Das packst du.“

„Noch jemand Interesse an einer Beispielrechnung?“
Sofort schreien mehrere ziemlich hoffnungslose Kandidaten auf. Ich laufe zu Höchstformen auf. Ich sage „Bilal, eine zwei in Englisch – null Problemo – du solltest mal versuchen nicht nur mir dem Oberkörper auf dem Tisch zu liegen. Dafür hast du ja jetzt nur eine vier bekommen. Leg dich doch im zweiten Halbjahr ganz drauf, dann gibt es bestimmt eine zwei. Fatma, du musst einfach noch öfter zu spät kommen, dann klappt das auch mit den 11Punkten in Mathe.“

Die Schüler sind voll motiviert. Jeder möchte seine persönliche Rechnung. Aylas Zukunfsperspektiven errechne ich sogar noch in der Pause. „Das schaffe ich Frau Freitag. Danke und schönes Wochenende.“

Ich wische die Tafel, gehe eine rauchen und denke – meine Klasse spinnt.

Ich war nicht Arzt – ich bin Arzt

Unglaublich, heute habe ich mich von einer akuten Magenschleimhautentzündung selbst geheilt. Vielleicht sollte ich Arzt werden. Ich wach auf – gekrümmt schleiche ich ins Bad. Wegen großer Lücken im biologischen Wissensbereich kann ich die Schmerzen keinem inneren Organ zuordnen. Der Freund weiß auch auch nicht. „Hier, in der Mitte. Was ist denn denn da?“ „Wahrscheinlich Magen.“ Oder Lunge? Ist Lunge nicht an der Seite?
Ich kann nur noch gekrümmt laufen, schaffe es gerade mir einen Kaffee zu machen. Auf die Idee, dass der, in Kombination mit den Zigaretten vielleicht gar nicht so sehr zur Genesung beiträgt, komme ich leider nicht. Auaa! Alles in der oberen Mitte schmerzt, wenn ich mich gerade hinstelle. Wie soll ich den in die Schule kommen? Anrufen, dass ich nicht komme geht auch nicht, denn es ist schon nach halb acht. Ich gehe also mit einem 90Grad nach vorne gebogenem Oberkörper zum Bus. Sitzen geht. Stehen tut wieder weh.

in der Schule krepel ich mich gleich ins Sekretariat. Die Sekretärin hat eine erst Hilfeausbildung, denkt aber irgendwie, dass sie Medizin studiert hat. „Anita, aua, guck mal, hier tut’s weh, was ist das für ein Organ. Das geht von hier bis hier.“ Ich markiere mit dem Finger wo der Schmerz liegt. „Magen.“ ich denke sofort: Krebs. Sie: „Wahrscheinlich eine Magenschleimhautentzündung.“ „Du Anita, ich kann gar nicht richtig stehen, das tut so weh. Ich habe jetzt gleich die siebte Klasse. Wenn es schlimmer wird schicke ich einen Schüler, die kann ich nämlich nicht alleine lassen. Aber dann musst du kommen. Okay?“ „Okay.“

Ich schleiche ins Lehrerzimmmer zu meinem Fach. Aua aua. Anita kommt mir hinterher: „Du Frau Freitag, auf Kaffee solltest du aber verzichten. Alles was den Magen jetzt reizt geht nicht.“ Oh Mann, wie ich dass hasse. Immer wenn man was hat soll man auf Kaffee und Zigaretten verzichten. Sehe ich gar nicht ein. Da ist man schon krank und dann darf man nicht mal rauchen? Und auf Tee umsteigen? Das klappt klappt ja nicht mal, wenn man gesund ist.

Dann siebte Klasse. Genau das brauchst du, wenn es dir nicht gut geht. Ein Haufen Irrer fliegt in den Raum. Alle schreien durcheinander, keiner geht an seinen Platz. Mert sitzt direkt vor meiner Nase. Die Schmerzen werden schlimmer. „Was haben Sie?“ fragt er. Er sieht, dass ich irgendwie anders bin. Heute stehe ich nicht wie sonst in der Mitte des Raumes und domtiere die Schüler an ihre Plätze. Ich bleibe an meinem Tisch sitzen. „Ich habe Bauchschmerzen.“ Ich höre mich an wie die Entschuldigungszettel von Marcella. „Wegen starke Bauchschmerzen konnte Marcella dies nicht und das nicht und schon gar nicht in die Schule kommen.“ Mert überlegt. „Warum kommen Sie dann in die Schule. Warum bleiben Sie nicht zu Hause“. Ja, warum bleibe ich nicht zu Hause. Ich habe wahrscheinlich einen Magenkrebs.

Ich stehe auf und setze mich so lehrermäßig mit der halben Arschbacke auf Merts Tisch, um die Aufmerksamkeit der Schüler zu bekommen. Klappt nur bedingt. „Setzt euch mal hin! Sie hat Bauchschmerzen!“ brüllt Mert seine Mitschüler an. Ich hauche mit letzter Kraft: „Danke. Geht schon. Pack mal dein Buch aus.“

Irgendwie machen wir dann Unterricht. Irgendwie waren sie etwas gedämpft. Irgendwie haben wir alle die Stunde überlebt. In der Pause gehe ich eine Zigarette rauchen. Aus purer Gewohnheit. Und als ich wieder in meinem Raum bin merke ich: Die Schmerzen sind weg. Ich bin geheilt.

Fazit: Bei einer Magenschleimhautentzündung muss man in einer besonders heißen Brennpunktschule eine siebte Klasse unterrichten und sofort im Anschluss eine Zigarette rauchen, dann ist die Entzündung weg.

Heute nur mal ganz kurz

Oh herrlich. Gleich der Dschungel, mit Sarah „ich bin eine starke Frau“. Habe ich Sarah nicht in meiner Klasse? „Ich könnte ja wenn ich wollte…“

Ach meine Klasse…kommen wann sie wollen, arbeiten überhaupt nicht, lügen sich in die Tasche „Ich werde mich anstrengen! Werden Sie sehen.“

Ich bin zu müde für mehr – seit 5Uhr wach – Unterricht, Zensurenkonferenz, Meeting mit Frau Dienstag, Telefonat mit Frl. Krise und jetzt bin ich ein ganz leerer Lehrer. Morgen wieder – versprochen.

Verarschen kann ich mich alleine, liebe Schulbehörde


„Aber die müssen sich bald anmelden.“ sagt Frau Dienstag. „Auch an den OSZs gibt es nicht unendlich viele freie Plätze.“ Frau Dienstag klärt mich auf, wie das mit meiner Klasse nach dem Schulabgang und ihren verkackten Abschlüssen weiter gehen soll.

Jetzt muss ich mich darüber informieren und dann neue Mantren streuen: „Ihr müsst euch dort bewerben. Da gibt es einen Bewerbungsschluss. Warst du schon da? Hast du dich da angemeldet…“ Super. Das hört ja wohl nie auf.

Morgen haben wir die Zensurenkonferenz. Zur Realschulprüfung zugelassen werden fast alle, die das wollen. Die Realschulprognose haben aber nur sehr wenige. Irgendwie total paradox. Da darf man sich anmelden, wenn man nicht mehr als vier Ausfälle (also fünfen und sechsen) hat, aber am Ende braucht man in fast allen Fächern eine drei.

Das ist so, wie wenn man 100 kg Frauen beim Casting für Germany’s next Top Model auswählt, sie ins Band Modelhaus einziehen lässt und ihnen dann am Ende sagt: „Sorry hier kannst du nur gewinnen, wenn du 48 kg wiegst.

Die Logik der Schulbehörde erschließt sich mir nicht. Haben die Angst, dass wir nicht genug zu tun haben? Schließlich muss ja jeder Angemeldete betreut und betüdelt werden und jede geschriebene Arbeit korrigiert, bewertet und in irgendwelche Computer eingegeben werden. Weniger Anmeldungen bedeutet eben auch weniger Arbeit für uns und das darf wohl nicht sein. Außerdem müssten die Schüler sich ja, wenn sie sich nicht anmelden würden mit ihrer nahen Zukunft auseinandersetzen. So können sie diese unangenehmen Gedanken in dem Glauben, „ich mache ja die Realschulprüfung“ vor sich her ins Nirvana schieben.

Rechnerisch ist bei manchen Schülern gar kein Realschulzeugnis mehr möglich – wer z.B. nur einen Punkt in Mathe hat und im Sommer mindestens 7 braucht, der müsste ja 13 Punkte im zweiten Halbjahr bekommen. (Note vom ersten Halbjahr + Note vom zweiten Halbjahr geteilt durch zwei – ergibt die Endjahresnote). Es gibt aber nur 12 Punkte zu holen in Mathe. Und auch wenn rechnerisch alles möglich ist, dann ist da ja noch die kleine Hürde, dass man für eine gute Note vielleicht ein wenig Anstrengung braucht.

Ach, ich sehe schwarz. Aber Frau Dienstag hat mich beruhigt: „Bilde dir doch nicht ein, dass wir die letzten Menschen sind, die Einfluss auf die Schüler haben.“ Stolz erzählt sie mir immer wieder, dass zwei ihrer ehemaligen Jungs jetzt bei der Deutschen Bahn arbeiten. It figures.

Bärte, Busen und Bewerbungen

Während ich mir die Strümpfe anziehe und meine Tasche in den Schrank stelle kommt die Erkenntnis. So einfach dort in der Umkleide beim Sport. Frau Dienstag ist Zeugin.
„Ich will gar nicht wie Frl. Krise meine Klasse adoptieren, ich will und muss mich mal von der Verantwortung lösen!“

Ich bin zur Zeit mal wieder nicht gut zu sprechen auf die. Morgen erwarten mich deren Halbjahreszensuren und die muss ich eigentlich gar nicht sehen, um zu wissen, dass die mies sein werden. Nichts gemacht, jede dritte Stunde geschwänzt und wenn nicht geschwänzt, dann zu spät gekommen und wenn zu spät, dann auf jeden Fall mit Butterring, Börek oder Brötchen in den Unterricht, aber dafür ohne Hausaufgaben. Im Unterricht nur gequatscht, den eigenen Namen mit dem Edding, den man sich vom Geschichtslehrer für das Plakat „Können wir den mitnehmen, wir machen das dann zu Hause weiter…“ ausgeliehen hat den eigenen Namen auf diverse Blätter geschrieben (um sich zu vergewissern, dass man noch weiss, wer man ist, oder was?) Wenn man nicht den eigenen Namen geschrieben hat, hat man Bärte, Burkas oder Busen auf die unschuldigen beiden Peoples auf dem Workbook gemalt. Und dadrauf natürlich auch noch mal den eigenen Namen. Sorry Leute, den eigenen Namen auf alle Hefter zu klieren reicht nicht für einen Schulabschluss. Es reicht auch nicht nur im Raum zu sein und mit dem Oberkörper auf dem Tisch zu liegen. Kann mal jemand diese magnetischen Tische gegen normale umtauschen. Alle Tische in meinem Raum scheinen die Köpfe der Schüler anzuziehen. Apropos anziehen – auch wenn man das gut kann, gibt es dafür keinen Schulabschluss.
In der wöchentlichen Hausaufgabenstunde wird alles gemacht – nur keine Hausaufgaben. Ich bin kurz davor die für meine Schüler zu machen: „Was habt ihr auf in Deutsch? Gib mal her Ronnie, ich mach das schnell, du unterhältst dich ja gerade so angeregt mit Marcella und gefrühstückt hast du ja auch noch nicht.“
Meine Klasse ist in der Zehnten. Hallo!?! Zehnte? War da nicht irgendwas? Bewerben? Ausbildungsplätze? Außer Abdul „ich habe schon 13 Bewerbungen geschrieben, macht Spaß“ hat sich noch KEINER IRGENDWO beworben!!! Die Hälfte der Klasse weiss noch nicht mal, was sie machen will. Wenn ich sie frage, dann sagen sie: „Frau Freitag, das stresst.“ Vielleicht sollte ich nicht nur ihre Hausaufgaben machen, sondern auch noch ihre Bewerbungen schreiben. Sie tun es ja nicht und einer muss es ja machen.

In der letzten Hausaufgabenstunde hat meine Klasse nur darüber diskutiert, dass sie eine Klassenfahrt machen möchte. Ich bin echt abgegessen. Ich kann diese Haltung, dieses Verhalten, diese Verdrängung, diese Faulheit nicht mehr ertragen. Und deshalb bin ich jede Stunde, die wir zusammen haben extrem schlecht gelaunt. Aber langsam habe ich den Eindruck, dass sie gar nicht wissen, warum ich sauer bin. Dass das mit ihrem Verhalten zu tun hat, darauf kommen die gar nicht. Und heute dann die Erkenntnis. Ich werde mir nicht das letzte Halbjahr mit meiner Klasse damit versauen, mich um deren Zukunft zu kümmern. Wenn sie das nicht tun, dann tue ich das eben auch nicht. Ich will nicht mehr so schlecht gelaunt sein.

Am Freitag werde ich ihnen diese Gedanken mitteilen und dann jede Stunde mit ihnen genießen. Freundlich und nett sein und nicht mehr sauer und besorgt. Ich bin nicht deren Mutter!

Abooooo, ich freu‘ mich auf Freitag!!!!!!