Das Abdul-Verhör

Abdul kam wieder mit seiner Mutter und zu meiner Freude auch wieder mit der Übersetzer Tanten-Kusine. Schuldbewusst sitzt Abdul zwischen den beiden Frauen. „Also Abdul, nun erzähle mal.“ „Frau Freitag, ich will jetzt alles sagen.“

„Aha, gut. Machen wir Kronzeugenregelung, dann schieß mal los.“

Abdul packt aus. Wer hat getrunken, wer hat gekifft. Wer hatte was mit. Er unterscheidet penibel zwischen „Das habe ich gesehen, das habe ich gehört und das hat der mir direkt erzählt.“ Abdul nennt Namen, die ich nicht kenne. Ich denke: Ha, die sind alle aus den PERFEKTEN anderen Klassen, super. Und da geht es nicht nur um Grass und Alk, sondern auch um Speed und plötzlich kommen auch noch die Hells Angels ins Spiel.

Ich bin ganz gerührt von Abdul, wie er versucht sich aus der Scheiße zu ziehen. Dabei finde ich alles gar nicht so schlimm. So ein bisschen Alkohol bei so einem Ausflug gehört doch dazu. Sonst wären das doch keine Jugendlichen. Aduls Mutter betont immer wieder, dass sie eine ganz religiöse Familie sind und dass es bei ihnen genauso schlimm ist, Alkohol zu tragen, wie Alkohol zu trinken. Mitten im Satz stockt sich und ich greife mir über den Tisch ihren Arm: „Bitte, bitte nicht weinen Mama Abdul, ist alles nicht so schlimm. Abdul ist ein guter Junge. Wird alles wieder gut. Bitte nicht weinen!“

Am Ende des Gesprächs verspricht mir Abdul wieder mal, dass er nächstes Jahr ein anderer Mensch wird und ich ziehe demonstrativ einen dicken Strich über meine Notizen und sage, dass sich das alles jetzt für mich erledigt hat. Abduls Mama küsst mich zum Abschied und glücklich gehen wir auseinander. Ich bin hochzufrieden. Beim nächsten Gemecker über meine Klasse ziehe ich die Grass und Speed Trümpfe. Ach, ich liiiebe meinen Job.

Wichtig, Achtung, Hilfe!!!

Kann sich die Frau, die im Heidepark arbeitet und mir den Kaffee versprochen hat, mal melden, ich habe gestern was verloren. Leider scheinen im Heidepark nur Automaten und Maschinen zu arbeiten. Ich würde gerne mal mit jemandem vom Fundbüro sprechen. Mit einem Menschen aus Fleisch und Blut. Ist doch nicht zuviel verlangt, oder? Vielleicht hat auch jemand eine Telefonnummer. Ist dringend!!!

Es ist vollbracht

Habe ich das gerade richtig verstanden…man hat die Unterhosen von Rooney geklaut? Wer braucht denn so was? „Original getragen während des Rauswurfspiels gegen good old Germany“? Jemand Interesse an meinem T-Shirt? „Angst-Stress-Gemisch aus 12 Stunden Heidepark?“

Ja, es ist endlich vollbracht. I did it. Ich bin Heidepark entjungfert. Und wie war’s, Frau Freitag? Na ja, ich sag’ mal als täglichen Job bräuchte ich das nicht. Und ich wurde nicht enttäuscht. War alles dabei:

• Taschenkontrolle

• Laute Schüler im Bus „Wieso, wir müssen doch Party machen.“

• Hitzeschlag „Ich habe nichts gefrühstückt und auch nichts zu Essen oder zu Trinken dabei“

• Es wurde viel gekotzt: „Emmie hat sich einmal dort und einmal da hinten übergeben.“ „Vallah, er hat beim Looping gekotzt. Das hätten Sie sehen müssen!“

• Klitschnasse Schüler: „Und wir waren alle in dem See bei der Freiheitsstatur und dann war da so was Grünes und Samira ist voll ausgerutscht… wir haben uns weggeschmissen.“

• Lernresistenter Abdul mit komischer Plastiktüte. „Abdul, komm mal her. Gib mir mal die Tüte.“ Zwei halbvolle Colaflaschen und Kaffeebecher. „Mach mal auf, hier gieß’ mir mal was ein. Ihhh, was ist das Weinbrand?“ Kollege: „Und hier ist Vodka drin.“ Endlose Inquisition und Abduls Versuche seinen Kopf zu retten: „Ich habe die Tüte nur gehalten für diesen einen Jungen. Nein, Namen kenne ich nicht. Aussehen? Vergessen. Getrunken habe ich nicht. Ich bin doch Moslem, ich bete 5x am Tag. Wenn ich trinke, dann darf ich 40 Tage nicht mehr beten.“ Wo bleibt die Logik? Ich wäre wahrscheinlich schon Alkoholiker. „Abdul nennt Namen? Nach einer Stunde sieht es so aus, als hätten ALLe Schüler getrunken und gekifft. Die Beschuldigten werden befragt. Jeder ist empört und nennt wieder neue Namen. Fehlt nur noch, dass sie sagen, dass sie den Alkohol von mir haben und ihnen der Schulleiter das Grass zugesteckt hat. Abdul soll uns den Jungen zeigen. Der ist plötzlich weg. „Irgendwie ist der gar nicht im Bus.“ Ich schleppe den ganzen Nachmittag zwei gepunschte Colaflaschen in einer abgeranzten Rewetüte mit mir durch den Park. Beweismittel. Kurz vor der Ankunft vor der Schule bestelle ich Abduls Mutter in die Schule. Heute geht die Beweisaufnahme weiter. Abdul muss bluten. Sorry, Dummheit muss bestraft werden. Vor allem auch, weil er auf der Autobahn die LKWs mit einem Laserpointer geblendet hat.

• Nette Busfahrer gab es auch: „Möchten Sie nicht mindestens 10 Schüler hier lassen?“ „Ich möchte ja nicht mit Ihnen tauschen.“ Da hatten wir mal was gemein. Verwirrende Anfrage an Emre: „Verstehst du Deutsch? Bist du der deutschen Sprache mächtig?“ Emres Mutter ist Bio-Deutsche und wir sind eine 9te Klasse einer Deutschen Schule…

• „Frau Freitag, haben Sie nicht gemerkt, dass Emre im Klo gekifft hat?“

• Emre: „Frau Freitag, mir ist schlecht von der Achterbahn. Haben Sie Tüte?“

• Klassendifferenzen: „Frau Freitag, also mit deiner Klasse geht das gar nicht, die sind oben soooo laut.“

• Dubioses Vertrauen: „Mir fehlen 50 Euro. Ich hatte ihm meine Tasche gegeben, da war das Geld noch drin. Dann war es weg. Aber er sagt er hat es nicht genommen. Und ich glaube ihm.“ Tja.

Aber es gab auch:

• „Die Holzbahn ist bombastisch.“ „Frau Freitag, hier ist sooo Hammer.“ „Das war der schönste Wandertag jemals.“ „Hier ist soooo schööön.“ „Wir sind alles dreimal gefahren.“ „Hat soooo Spaß gemacht.“

• „Morgen bin ich krank. Wenn ich die Augen zumache – ich denke ich bin Holzachterbahn.“

• „Perfekter Tag“ „Und jetzt noch der Sonnenuntergang, voll schön.“

Und Frau Freitag – hat sich fast in die Hosen gemacht, als sie die Wasserbahn fahren musste. Um Mitternacht war ich wieder auf meiner Couch. Glücklich alles überlebt zu haben. Der Freund gibt mir Wasser und sagt: „Das hast du super gemacht. So was erleben die sonst nie.“

Super Spiel! Vielen Dank!

Mist, so ganz fertig bin ich doch noch nicht. Da ist ja noch dieser Heideparkausflug. „Freu’n sie sich auch so?“ Irgendwie schon. Jetzt will ich es endlich wissen: Werden sie alle pünktlich kommen? Betrunken oder nüchtern? Mit Kopfbedeckungen? Mit Sonnencreme? Genügend Getränken? Werden sie Spaß haben? Werde ich auch Spaß haben? Werden alle pünktlich für die Rückfahrt am Bus sein? Ich hoffe es gibt auch ein paar strahlende Kinderaugen. Von den Kollegen an meiner Schule und den Kollegen in meinem Freundeskreis werde ich bemitleidet und bewundert: „ Warum machst du das?“ „Würde ich nicht im Traum drauf kommen…“ „Heidepark? Ich bin doch nicht lebensmüde.“ Ja, warum mache ich das? Es gibt echt nur eine Antwort: Weil ich ein elender Schülerschleimer bin.

So und jetzt muss ich mich mal vorbereiten, auf das Spiel Argentinien und Mexiko. Man muss seine Gegner kennen.

Fertig

Zensuren eintragen – fertig.

Zeugnisse machen – fertig.

H-Park Vorbereitung – fertig.

Raum aufräumen – fertig.

Unterrichten – fertig.

So tun als unterrichte man – fertig.

Unfreundlich und gestresst sein – fertig.

Suchen und sortieren – fertig.

Schuljahr 2009/10 – fertig.

Ab jetzt dümmpel ich mich durch die letzten Schultage und warte auf die Ferien. Und dann wird gefeiert!!! Kann ich mir irgendetwas Schöneres vorstellen, als diesen herrlichen Beruf? Kaum.

Jetzt auch noch das…

Okay, heute – der Tag der Entscheidung – denken zumindest die Schüler. In der ersten Stunde sage ich ihnen, dass ich ihnen erst in der fünften Stunde genau sagen kann, ob wir nun HP- gehen oder nicht. Nur so kann ich sicher gehen, dass sie nicht schon früher nach Hause abhauen. Ich weiß bereits, dass wir einen größeren Bus bekommen haben und alles schon gebucht ist. Irgendwas in mir möchte aber die endgültige Zusage noch hinauszögern, weil ich momentan echt keinen Bock auf diesen Höllentrip habe. Ich sage ihnen, dass das Busunternehmen gegen Mittag anrufen wird. Sie können sich gar nicht vorstellen, dass ich nicht in den Heidepark möchte und fragen ganz aufgeregt: „Frau Freitag, was meinen Sie? Meinen Sie wir fahren, oder nicht?“

Ich: „Keine Ahnung, kann ich echt nicht sagen. Aber einige haben ihre Bücher noch nicht abgegeben…ich lese noch mal die Namen vor….“

In der vierten Stunde dann der Schock! Ich putze mit einigen Schülern meiner Klasse fröhlich meinen Raum. Alle machen mit und wir sind bester Dinge, als sie mir plötzlich erzählen, dass Abdul geplant hat, Alkohol zu besorgen, damit sie sich VOR der Busfahrt noch besaufen können. Ich bin sprachlos: „Waaaasss?“ Ich erfahre unglaubliche Details und  Namen von Partizipanten. Alle Anwesenden distanzieren sich. Auch Abdul versucht sich von sich selbst zu distanzieren: „Hab ich doch gar nicht gesagt!“ Chancenlos – da ihn alle anderen sofort niederbrüllen. Nach der Stunde habe ich absolut überhaupt keine Lust mehr auf diese Fahrt. Ich sehe mehrere besoffene Schüler im Rote Kreuz Zelt, Elterngespräche am Handy, missmutige Kollegen, die meinetwegen warten müssen…ich sehe nur noch Untergang und Verdammnis, Tod einzelner Schülerinnen, Disziplinarverfahren, Arbeitslosigkeit, Wohnungsverlust, Mietnormaderei und Messitum.

Kurz vor der fünften Stunde schnüre ich meine letzten Kraftreserven zusammen und trete vor meine gespannte Klasse. Ich verkünde, dass wir fahren und zische hinterher, dass ich bei dem kleinsten Vergehen in Richtung Zigaretten und Alkohol sofort die Eltern anrufe und die Kinder kostenpflichtig von den Vätern abholen lasse, dass sie dann eine fette Sitzung erhalten und, dass sich dann jegliches Vergnügen im nächsten Schuljahr von der Backe zu putzen sei. Die verdächtigen Kandidaten spreche ich vor allen anderen noch mal ganz persönlich an und male ihnen jeweils ihre individuelle düstere Zukunft aus, sollten sie sich nicht an meine Gebote halten.

Dann schließe ich mit einem etwas Milderen: „Wer sich im Heidepark nicht ohne Alkohol amüsiert, der schafft das auch nicht mit.“ Innerlich grummle ich vor mich hin: „Es wird Taschenkontrollen geben, Taschenkontrollen, Atemproben und ich werde jedes Getränk vorkosten.“

Wer unterrichtet die denn?

Heute hat mich das Leben in eine Gegend verschlagen, die in keinem Sozialatlas steht. Ich saß im Bus und dort gab es niemanden mit irgendeinem Migrationshintergrund oder sonst einer Benachteiligung. Plötzlich betreten drei Jugendliche den Bus. Mit Skateboards. Aber nicht irgendwelchen, sondern diesen hypermodernen Riesendingern. Ich scanne Gemeinsamkeiten mit den Jungs in meiner Klasse: Körpergröße, Geschlecht, Pickel. Mehr Ähnlichkeit mit meinen Jungs kann ich nicht feststellen. Was haben die für seltsame Klamotten an. Wo ist der gestreifte Kapuzenpulli? Warum tragen die keine Mützen. Wo sind ihre Kopfhörer. Sind die gegen Musik?

Jetzt sprechen sie: „Ja, heute in ITG waren wir an den Macs. Die sind total anders als die PCs.“ „Ja, mein Bruder sagt auch, dass die intuitiver sind. Benutzerdefinierter, als die PCs.“ Wie reden die denn? In ganzen Sätzen, mit Artikeln und Präpositionen und bisher hat auch noch niemand auf den Boden gespuckt. Sammelt sich bei denen denn keine Spucke im Mund? Und sie fangen auch keinen Streit mit den anderen Businsassen an. Sie stehen einfach nur ruhig und entspannt da und unterhalten sich. Wenn einer was sagt, hören die anderen zu und warten, ohne ihn zu unterbrechen. Sie beleidigen sich noch nicht mal. Sie sprechen auch nicht mal besonders laut, obwohl sie sehr dich beieinander stehen. Jetzt unterhalten sie sich über den Vorteil von IPhones, die man wohl sehr gut in der Deutscharbeit einsetzen konnte. Sie fragen sich, ob man das auch im Abitur machen kann, einigen sich aber schnell darauf, dass man da bestimmt die Handys abgeben muss.

Dann vergleichen sie ihre Ergebnisse aus der Geschichtsklausur: „Na ich habe geschrieben, dass es mit dem Nationalsozialismus zu tun hatte und mit der russischen Besatzung.“ Was die reden und wie die aussehen…sind das überhaupt Jugendliche? Oder sind das kleingebliebene Erwachsene? Die Frisuren könnten darauf hindeuten. Sie tragen alle den berühmten Überkämmer. Diese Frisur, bei der man die Haare von der einen Seite auf die andere Seite kämmt, um die Glatze zu verdecken. Beim Aussteigen drehe ich mich noch mal um. Sie stehen immer noch da und unterhalten sich in dieser ruhigen Art.

Ich sehe dem davonfahrenden Bus nach und denke: „Ach, solche gibt es also auch. Zum Glück muss ich die nicht unterrichten.“

HP – Update

Emotionslos haben die Kinder mir noch mal 2 Euro mitgebracht inklusive die Hälfte der ausgegebenen Schulbücher. Morgen verlange ich den kleinen Finger der linken Hand. Finanziell steht die Sache. Selbst Abdul hat noch Cash gebracht. Eigentlich hätte er mir auch einen Klumpen Gold geben können.

Aber jetzt macht das Busunternehmen Zicken. Ich wollte doch einen größeren Bus und die brauchen aber UNBEDINGT die genaue Anzahl der mitkommenden Personen. Die kann ich ihnen aber nicht geben, da die anderen Klassen mit dem Bezahlen nicht so vorbildlich sind wie meine.

Und dann der Hammer: Der Ursprungsbus, den ich gebucht hatte, der wollte einen Pauschalpreis. Wenn man dann zwei Klassen mit je 23 Schülern beisammen gehabt hätte, dann wären pro Klasse zwei Lehrer kostenlos kutschiert worden. Diese Halsabschneider verlangen aber pro Peron einen Festpreis.

„Okay, ich verstehe, die Schüler zahlen also pro Sitzplatz und ab wie vielen Schülern fährt der Lehrer umsonst mit?“ „Äh, die Lehrer müssen auch bezahlen.“

„Eeeeeecht? Wie viel denn?“ „Ähh, hihi (leises peinliches Gelächter der Frau am Ende der Telefonleitung) äh, den gleichen Preis.“ Ich: „Ist das IHR ERNST???? Ich setze mich da stundendlang in den Bus und soll noch dafür bezahlen?“ Sie: „Ja, äh, ja.“

Ich, in versöhnlichem Ton: „Okay, jetzt mal angenommen ich liefere Ihnen noch eine Klasse, da haben Sie dann noch mal über 20 zahlende Schüler. Dann MUSS sich doch was machen lassen. Das andere Busunternehmen hat einen Pauschalpreis genommen. Wie viel kostet denn Ihr Bus?“

„Äh, äh, äh, hihi, ich frag’ noch mal nach, vielleicht kann ja…äh, äh…“

Die Tante spinnt doch wohl. Ich zahle doch nicht, dafür, dass ich um 5 Uhr aufstehen muss und mich dann in einen Bus mit 70 lärmenden Jugendlichen setze und an einen Ort fahre, an den ich gar nicht will. Ich gebe doch den Autofahrern, die mir mit dem Fahrrad die Vorfahrt nehmen auch kein Geld. Wo kommen wir denn dahin. Also eins weiß ich, die ist auf keinen Fall Lehrerin und noch nicht mal mit einem Lehrer verheiratet.