„Okay, Frau Freitag, heute fangen wir mal ganz vorsichtig an in die Spiegel zu gucken.“
„Echt? Jetzt schon? Bist du sicher? Ich hatte doch erst 43 Fahrstunden.“
Wir fahren los. Blinker setzten, Kupplung, erster Gang, anfahren mit Vorgas… Frau Dienstag lacht über Vorgas. Das gab es noch nicht, als sie ihren Führerschein gemacht hat. Da sind die Pferde einfach losgelaufen, wenn man an den Zügeln gezogen hat.
„So und jetzt in den Rückspiegel gucken.“ Ich gucke. Ich sehe gut aus. Die Haare sitzen nicht ganz so toll und ich könnte die Wimpern nachtuschen, greife nach meiner Tasche auf dem Rücksitz…
Nein, nein, Spaaaaß. Meine Tasche darf nie auf dem Rücksitz liegen, weil die könnte mich erschlagen, wenn ich mit 50 bremsen sollte. Dann katapultiert die sich nach vorne und macht noch ’ne Biegung zum Fahrersitz oder sie kommt direkt durch den Sitz und tötet mich. Das wollen wir ja nicht. Tod durch Tasche. Also liegt sie im Fußraum hinter mir und ich komm da während der Fahrt auch nur sehr schlecht dran.
„Wie, du fährst jetzt schon seit über 10 Stunden ohne in die Spiegel zu gucken?“, fragt ein Freund gestern. Ich nicke. Er lacht. „Das wäre ja wie schreiben lernen ohne auf die Rechtschreibung zu achten.“ Und plötzlich sehe ich Harald mit ganz anderen Augen. Ist er am Ende doch kein frustrierter Westdeutscher der nach Berlin kam, um der Enge seiner piefigen Kleinstadt zu entfliehen und im großen Berlin sein Glück zu finden? Ist er doch nicht latent depressiv, weil er in Berlin dann nur die piefige kleine Fahrschule bei mir um die Ecke fand? Ist er am Ende der Fahrlehrer, der ganz neue pädagogische Akzente in der Fahrschulszene setzt? Der Held der didaktischen Reduktion. In der ersten Stunde lernen wie, wie wir uns anschnallen. Das ist gar nicht so einfach, denn spiegelverkehrt. Dann lenken, Schritttempo, dann erster Gang, dann zweiter Gang, dann eine Weile nur zweiter Gang, dann im Dunkeln, dann wieder zurück zu nur erster Gang, dann wieder zweiter, dann sogar dritter Gang und jetzt eben Spiegel gucken. Aber nur in einen. Nicht zuviel auf einmal. Bis Oktober haben wir ja noch sooo viel Zeit.
„Unterschätze das in die Spiegel gucken nicht.“, sagt er.
„Keine Angst, tue ich nicht.“, antworte ich.
„Blinker setzten nach links.“ Ich gehorche. Fahre. Er: „Jetzt Blinker setzen nach links.“ Ich denke – da ist doch gar keine Straße. Er meint wahrscheinlich rechts. Da geht es zu einer Tankstelle. Aber ich soll nicht denken. Ich bin etwas unsicher und ziehe leicht nach rechts. Er geht in die Bremse und guckt mich an: „Ich hatte gesagt links.“ Ich: „Oh ja, klar, natürlich, sorry.“ Winde mich in meinen Entschuldigungen, tzzzz, da zahle ich auch noch über 50 Euro für, damit ich mich hier ständig vor dem winden darf, komische Welt.
Ich schleiche links an der Tankstelle vorbei. Bin immer noch verwirrt, warum ich nach links blinken sollte. Und dann tue ich etwas sehr Unüberlegtes: Ich frage nach. „Äh, warum sollte ich denn blinken.?“
„Da war ein Fahrbahnwechsel.“ Er seufzt „Halt mal an, ich erkläre dir was eine Fahrbahn ist.“
Und dann erhalte ich wieder so einen Vortrag auf Folien mit Straßen, auf die er mit ausgetrockneten Overheadstiften (non-permanet) Striche und Pfeile zeichnet. Dann wischt er alles weg. Aber nicht ordentlich. Ich denke: Wisch das doch mal richtig weg! Du hast ja alles nur verschmiert. Aber er hat den kleinen Hefter schon wieder weggepackt.
Am Ende der Stunde sitzen wir im Auto und Harald sagt: „Ich wünschte es würde dir Spaß machen.“
Ich sage: „Ich bin verunsichert und wenn du immer sagst, dass es so lange bei mir dauern wird, dann komme ich mir vor wie der allerletzte Depp, der das nie schaffen wird.“
„Das habe ich nie gesagt.“
„Aber, wenn du immer sagst das ist alles so schwer, dann heißt das doch dass ich zu bekloppt bin für den Führerschein.“
„Das sage ich ja gar nicht. aber es wird nicht leicht.“ Ich quatsche gegen eine Wand. Er hat seine feste Meinung von mir und davon rückt er auch nicht ab.
„Ich meine ja nur, mir ist es egal wie lange es dauert. Es dauert so lange, wie es dauert. Aber ich muss das nicht ständig hören.“
Harald seufzt: „Frau Freitag, da musst du dich durchbeißen und ich weiß nicht ob du das kannst.“ Und da denke ich: Wie bitte???? Ich und nicht durchbeißen können??? Durchbeißen ist mein zweiter Vorname!
„Ich hab mich schon durch ganz andere Sachen durchgebissen. Das schaffe ich schon.“, sage ich und steige aus. Tzzzz, durchbeißen. Als wäre Lehrerin zu werden nicht 1000 Mal schwieriger, als einen Führerschein zu machen. Ich habe in meiner Berufslaufbahn so viele schlechte Lehrer gesehen. Lehrer, die ihr Leben lang Chaos in den Klassen hatten. Und die waren alle gute Autofahrer. Das beweist doch, dass es viel leichter ist, einen Führerschein zu machen, als an einer Brennpunktschule zu unterrichten. Aber ich sage nichts. „Ich habe mich schon durch ganz andere Sachen durchgebissen“ lasse ich einfach mal so stehen. Da kann er sich ja jetzt mal überlegen, durch was sich diese Frau Freitag durchbeißen musste.