Gelähmtes Leben


Ist ein wenig zu heiß für mein schwaches Gemüt. Ist ja wie New York City im August hier. Nachts schwitzt man immer noch und tagsüber ist man wie gelähmt. Ich stelle mir schon vor, wie wir alle verdursten, weil es bei Lidl kein Mineralwasser mehr gibt. Zum Glück glaube ich nicht so an das Trinken und zum Glück habe ich gestern zwei Ventilators gekauft. Diese leichte Sommerbrise, die mir den Rücken streichelt macht es in meinem Zimmer halbwegs erträglich. So eine Old-School-Klimaanlage ist genau das was man braucht. Ich könnte auch noch jemanden brauchen, der meinen Schreibtisch aufräumt.

Für Action muss man ja in den Ferien leider selbst sorgen. In der Schulzeit ist man einfach Teil der Action. Zensurenabgabe, Konferenzen, Grillen, Wandertag, Klassenkonferenz…

Aber ich habe gelernt. Gestern habe ich angefangen, einen Heideparktrip für meine Freunde zu organisieren und damit es nicht so leicht wird, habe ich mich vorher mit allen Busunternehmen am Telefon gestritten. Ich möchte dort hinfahren und mindestens zwei Tage bleiben. Entweder dort in einem Spaßhotel übernachten oder wir machen eine Nachtwanderung. Und damit es beim Achterbahnfahren nicht so langweilig wird habe ich alle möglichen Drogen und sehr viel Alkohol besorgt. Frl. Krise freut sich schon. Die fährt gerne Achterbahn. Wir können einen Wettbewerb machen- wer kann die meisten Loopings fahren ohne zu Kotzen.

Und wenn wir wieder kommen machen wir eine Klassenkonferenz. Irgendjemand in meinem Bekanntenkreis wird sich schon daneben benommen haben. Einladungen verschicke ich morgen und das Protokoll schreibt Frau Dienstag. Ich mache mir schon Gedanken über passende Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen.

Verstärkt die übermäßige Hitze eigentlich die Depression oder trocknet die sie aus?

Und ihr lieben Rechtschreibnazis – ich weiß selbst, dass es nicht Ventilators heißt.

Das Abdul-Verhör

Abdul kam wieder mit seiner Mutter und zu meiner Freude auch wieder mit der Übersetzer Tanten-Kusine. Schuldbewusst sitzt Abdul zwischen den beiden Frauen. „Also Abdul, nun erzähle mal.“ „Frau Freitag, ich will jetzt alles sagen.“

„Aha, gut. Machen wir Kronzeugenregelung, dann schieß mal los.“

Abdul packt aus. Wer hat getrunken, wer hat gekifft. Wer hatte was mit. Er unterscheidet penibel zwischen „Das habe ich gesehen, das habe ich gehört und das hat der mir direkt erzählt.“ Abdul nennt Namen, die ich nicht kenne. Ich denke: Ha, die sind alle aus den PERFEKTEN anderen Klassen, super. Und da geht es nicht nur um Grass und Alk, sondern auch um Speed und plötzlich kommen auch noch die Hells Angels ins Spiel.

Ich bin ganz gerührt von Abdul, wie er versucht sich aus der Scheiße zu ziehen. Dabei finde ich alles gar nicht so schlimm. So ein bisschen Alkohol bei so einem Ausflug gehört doch dazu. Sonst wären das doch keine Jugendlichen. Aduls Mutter betont immer wieder, dass sie eine ganz religiöse Familie sind und dass es bei ihnen genauso schlimm ist, Alkohol zu tragen, wie Alkohol zu trinken. Mitten im Satz stockt sich und ich greife mir über den Tisch ihren Arm: „Bitte, bitte nicht weinen Mama Abdul, ist alles nicht so schlimm. Abdul ist ein guter Junge. Wird alles wieder gut. Bitte nicht weinen!“

Am Ende des Gesprächs verspricht mir Abdul wieder mal, dass er nächstes Jahr ein anderer Mensch wird und ich ziehe demonstrativ einen dicken Strich über meine Notizen und sage, dass sich das alles jetzt für mich erledigt hat. Abduls Mama küsst mich zum Abschied und glücklich gehen wir auseinander. Ich bin hochzufrieden. Beim nächsten Gemecker über meine Klasse ziehe ich die Grass und Speed Trümpfe. Ach, ich liiiebe meinen Job.

Es ist vollbracht

Habe ich das gerade richtig verstanden…man hat die Unterhosen von Rooney geklaut? Wer braucht denn so was? „Original getragen während des Rauswurfspiels gegen good old Germany“? Jemand Interesse an meinem T-Shirt? „Angst-Stress-Gemisch aus 12 Stunden Heidepark?“

Ja, es ist endlich vollbracht. I did it. Ich bin Heidepark entjungfert. Und wie war’s, Frau Freitag? Na ja, ich sag’ mal als täglichen Job bräuchte ich das nicht. Und ich wurde nicht enttäuscht. War alles dabei:

• Taschenkontrolle

• Laute Schüler im Bus „Wieso, wir müssen doch Party machen.“

• Hitzeschlag „Ich habe nichts gefrühstückt und auch nichts zu Essen oder zu Trinken dabei“

• Es wurde viel gekotzt: „Emmie hat sich einmal dort und einmal da hinten übergeben.“ „Vallah, er hat beim Looping gekotzt. Das hätten Sie sehen müssen!“

• Klitschnasse Schüler: „Und wir waren alle in dem See bei der Freiheitsstatur und dann war da so was Grünes und Samira ist voll ausgerutscht… wir haben uns weggeschmissen.“

• Lernresistenter Abdul mit komischer Plastiktüte. „Abdul, komm mal her. Gib mir mal die Tüte.“ Zwei halbvolle Colaflaschen und Kaffeebecher. „Mach mal auf, hier gieß’ mir mal was ein. Ihhh, was ist das Weinbrand?“ Kollege: „Und hier ist Vodka drin.“ Endlose Inquisition und Abduls Versuche seinen Kopf zu retten: „Ich habe die Tüte nur gehalten für diesen einen Jungen. Nein, Namen kenne ich nicht. Aussehen? Vergessen. Getrunken habe ich nicht. Ich bin doch Moslem, ich bete 5x am Tag. Wenn ich trinke, dann darf ich 40 Tage nicht mehr beten.“ Wo bleibt die Logik? Ich wäre wahrscheinlich schon Alkoholiker. „Abdul nennt Namen? Nach einer Stunde sieht es so aus, als hätten ALLe Schüler getrunken und gekifft. Die Beschuldigten werden befragt. Jeder ist empört und nennt wieder neue Namen. Fehlt nur noch, dass sie sagen, dass sie den Alkohol von mir haben und ihnen der Schulleiter das Grass zugesteckt hat. Abdul soll uns den Jungen zeigen. Der ist plötzlich weg. „Irgendwie ist der gar nicht im Bus.“ Ich schleppe den ganzen Nachmittag zwei gepunschte Colaflaschen in einer abgeranzten Rewetüte mit mir durch den Park. Beweismittel. Kurz vor der Ankunft vor der Schule bestelle ich Abduls Mutter in die Schule. Heute geht die Beweisaufnahme weiter. Abdul muss bluten. Sorry, Dummheit muss bestraft werden. Vor allem auch, weil er auf der Autobahn die LKWs mit einem Laserpointer geblendet hat.

• Nette Busfahrer gab es auch: „Möchten Sie nicht mindestens 10 Schüler hier lassen?“ „Ich möchte ja nicht mit Ihnen tauschen.“ Da hatten wir mal was gemein. Verwirrende Anfrage an Emre: „Verstehst du Deutsch? Bist du der deutschen Sprache mächtig?“ Emres Mutter ist Bio-Deutsche und wir sind eine 9te Klasse einer Deutschen Schule…

• „Frau Freitag, haben Sie nicht gemerkt, dass Emre im Klo gekifft hat?“

• Emre: „Frau Freitag, mir ist schlecht von der Achterbahn. Haben Sie Tüte?“

• Klassendifferenzen: „Frau Freitag, also mit deiner Klasse geht das gar nicht, die sind oben soooo laut.“

• Dubioses Vertrauen: „Mir fehlen 50 Euro. Ich hatte ihm meine Tasche gegeben, da war das Geld noch drin. Dann war es weg. Aber er sagt er hat es nicht genommen. Und ich glaube ihm.“ Tja.

Aber es gab auch:

• „Die Holzbahn ist bombastisch.“ „Frau Freitag, hier ist sooo Hammer.“ „Das war der schönste Wandertag jemals.“ „Hier ist soooo schööön.“ „Wir sind alles dreimal gefahren.“ „Hat soooo Spaß gemacht.“

• „Morgen bin ich krank. Wenn ich die Augen zumache – ich denke ich bin Holzachterbahn.“

• „Perfekter Tag“ „Und jetzt noch der Sonnenuntergang, voll schön.“

Und Frau Freitag – hat sich fast in die Hosen gemacht, als sie die Wasserbahn fahren musste. Um Mitternacht war ich wieder auf meiner Couch. Glücklich alles überlebt zu haben. Der Freund gibt mir Wasser und sagt: „Das hast du super gemacht. So was erleben die sonst nie.“

Super Spiel! Vielen Dank!

Mist, so ganz fertig bin ich doch noch nicht. Da ist ja noch dieser Heideparkausflug. „Freu’n sie sich auch so?“ Irgendwie schon. Jetzt will ich es endlich wissen: Werden sie alle pünktlich kommen? Betrunken oder nüchtern? Mit Kopfbedeckungen? Mit Sonnencreme? Genügend Getränken? Werden sie Spaß haben? Werde ich auch Spaß haben? Werden alle pünktlich für die Rückfahrt am Bus sein? Ich hoffe es gibt auch ein paar strahlende Kinderaugen. Von den Kollegen an meiner Schule und den Kollegen in meinem Freundeskreis werde ich bemitleidet und bewundert: „ Warum machst du das?“ „Würde ich nicht im Traum drauf kommen…“ „Heidepark? Ich bin doch nicht lebensmüde.“ Ja, warum mache ich das? Es gibt echt nur eine Antwort: Weil ich ein elender Schülerschleimer bin.

So und jetzt muss ich mich mal vorbereiten, auf das Spiel Argentinien und Mexiko. Man muss seine Gegner kennen.

Jetzt auch noch das…

Okay, heute – der Tag der Entscheidung – denken zumindest die Schüler. In der ersten Stunde sage ich ihnen, dass ich ihnen erst in der fünften Stunde genau sagen kann, ob wir nun HP- gehen oder nicht. Nur so kann ich sicher gehen, dass sie nicht schon früher nach Hause abhauen. Ich weiß bereits, dass wir einen größeren Bus bekommen haben und alles schon gebucht ist. Irgendwas in mir möchte aber die endgültige Zusage noch hinauszögern, weil ich momentan echt keinen Bock auf diesen Höllentrip habe. Ich sage ihnen, dass das Busunternehmen gegen Mittag anrufen wird. Sie können sich gar nicht vorstellen, dass ich nicht in den Heidepark möchte und fragen ganz aufgeregt: „Frau Freitag, was meinen Sie? Meinen Sie wir fahren, oder nicht?“

Ich: „Keine Ahnung, kann ich echt nicht sagen. Aber einige haben ihre Bücher noch nicht abgegeben…ich lese noch mal die Namen vor….“

In der vierten Stunde dann der Schock! Ich putze mit einigen Schülern meiner Klasse fröhlich meinen Raum. Alle machen mit und wir sind bester Dinge, als sie mir plötzlich erzählen, dass Abdul geplant hat, Alkohol zu besorgen, damit sie sich VOR der Busfahrt noch besaufen können. Ich bin sprachlos: „Waaaasss?“ Ich erfahre unglaubliche Details und  Namen von Partizipanten. Alle Anwesenden distanzieren sich. Auch Abdul versucht sich von sich selbst zu distanzieren: „Hab ich doch gar nicht gesagt!“ Chancenlos – da ihn alle anderen sofort niederbrüllen. Nach der Stunde habe ich absolut überhaupt keine Lust mehr auf diese Fahrt. Ich sehe mehrere besoffene Schüler im Rote Kreuz Zelt, Elterngespräche am Handy, missmutige Kollegen, die meinetwegen warten müssen…ich sehe nur noch Untergang und Verdammnis, Tod einzelner Schülerinnen, Disziplinarverfahren, Arbeitslosigkeit, Wohnungsverlust, Mietnormaderei und Messitum.

Kurz vor der fünften Stunde schnüre ich meine letzten Kraftreserven zusammen und trete vor meine gespannte Klasse. Ich verkünde, dass wir fahren und zische hinterher, dass ich bei dem kleinsten Vergehen in Richtung Zigaretten und Alkohol sofort die Eltern anrufe und die Kinder kostenpflichtig von den Vätern abholen lasse, dass sie dann eine fette Sitzung erhalten und, dass sich dann jegliches Vergnügen im nächsten Schuljahr von der Backe zu putzen sei. Die verdächtigen Kandidaten spreche ich vor allen anderen noch mal ganz persönlich an und male ihnen jeweils ihre individuelle düstere Zukunft aus, sollten sie sich nicht an meine Gebote halten.

Dann schließe ich mit einem etwas Milderen: „Wer sich im Heidepark nicht ohne Alkohol amüsiert, der schafft das auch nicht mit.“ Innerlich grummle ich vor mich hin: „Es wird Taschenkontrollen geben, Taschenkontrollen, Atemproben und ich werde jedes Getränk vorkosten.“

HP – Update

Emotionslos haben die Kinder mir noch mal 2 Euro mitgebracht inklusive die Hälfte der ausgegebenen Schulbücher. Morgen verlange ich den kleinen Finger der linken Hand. Finanziell steht die Sache. Selbst Abdul hat noch Cash gebracht. Eigentlich hätte er mir auch einen Klumpen Gold geben können.

Aber jetzt macht das Busunternehmen Zicken. Ich wollte doch einen größeren Bus und die brauchen aber UNBEDINGT die genaue Anzahl der mitkommenden Personen. Die kann ich ihnen aber nicht geben, da die anderen Klassen mit dem Bezahlen nicht so vorbildlich sind wie meine.

Und dann der Hammer: Der Ursprungsbus, den ich gebucht hatte, der wollte einen Pauschalpreis. Wenn man dann zwei Klassen mit je 23 Schülern beisammen gehabt hätte, dann wären pro Klasse zwei Lehrer kostenlos kutschiert worden. Diese Halsabschneider verlangen aber pro Peron einen Festpreis.

„Okay, ich verstehe, die Schüler zahlen also pro Sitzplatz und ab wie vielen Schülern fährt der Lehrer umsonst mit?“ „Äh, die Lehrer müssen auch bezahlen.“

„Eeeeeecht? Wie viel denn?“ „Ähh, hihi (leises peinliches Gelächter der Frau am Ende der Telefonleitung) äh, den gleichen Preis.“ Ich: „Ist das IHR ERNST???? Ich setze mich da stundendlang in den Bus und soll noch dafür bezahlen?“ Sie: „Ja, äh, ja.“

Ich, in versöhnlichem Ton: „Okay, jetzt mal angenommen ich liefere Ihnen noch eine Klasse, da haben Sie dann noch mal über 20 zahlende Schüler. Dann MUSS sich doch was machen lassen. Das andere Busunternehmen hat einen Pauschalpreis genommen. Wie viel kostet denn Ihr Bus?“

„Äh, äh, äh, hihi, ich frag’ noch mal nach, vielleicht kann ja…äh, äh…“

Die Tante spinnt doch wohl. Ich zahle doch nicht, dafür, dass ich um 5 Uhr aufstehen muss und mich dann in einen Bus mit 70 lärmenden Jugendlichen setze und an einen Ort fahre, an den ich gar nicht will. Ich gebe doch den Autofahrern, die mir mit dem Fahrrad die Vorfahrt nehmen auch kein Geld. Wo kommen wir denn dahin. Also eins weiß ich, die ist auf keinen Fall Lehrerin und noch nicht mal mit einem Lehrer verheiratet.

Ich will nur noch schlafen!

Oh bin ich müde. Sooo müde. Dabei habe ich noch nicht mal ein WM-Vorrundenspiel bestritten, sondern war nur Grillen. Aber dann bis um 2 Uhr morgens in Debatten verstrickt. Am Thema war ich wahrscheinlich nicht ganz unschuldig. Irgendwie ging es am Rande um die Schule und Bildung. Erst habe ich so vom Unterrichten geschwärmt – keine Ahnung, was mich da getrieben hat, dass sich zwei junge Herren gleich am Montag für ein Lehramtsstudium anmelden wollen. Ich sollte Rekrutierter werden.

Dann ging es in einer kleineren Runde um den Bildungswillen meiner Schüler. Leider konnte mir niemand eine Antwort darauf geben, warum meine Klasse in diesem Jahr so schlechte Zeugnisse bekommen wird. Vielleicht ist die Realität schwer zu ertragen, denn ich höre immer wieder, dass „man da doch was machen muss.“ Vielleicht komme ich auch manchmal zynisch und hoffnungslos rüber – bin ich gar nicht, sonst hätte ich schon längst die Schule oder den Beruf gewechselt. Und vielleicht kann ich meine dann doch auch daseiende Zuneigung zu unserem Klientel nicht immer und überall in Worte packen. Aber sie ist da. Das garantiere ich: Ich arbeite sehr gerne mit denen.

Und auch wenn sie ohne Schulabschluss entlassen werden, dann ist das noch lange kein Todesurteil. Weder für sie, noch für mich, und schon gar nicht für die Gesellschaft. Keine Angst, ich habe denen soviel Selbstbewusstsein eingetrichtert, dass die es schon irgendwie packen werden. Bei manchen wird es eben ein wenig länger dauern, aber aus meiner Klasse wird niemand so bescheuert sein, bei einem Pokerraub aus falschem stolz die gelben Gummihandschuhe nicht anzuziehen. Das haben wir ausführlich bearbeitet und sie wissen alle, dass man nicht mit dem eigenen PKW zum Raub vorfährt.

Nur wenn und dann auch nur vielleicht…

So. Eventuell gibt es einen großen Bus. Aber dann auch nur mit 72 Plätzen. Ich werde wahrscheinlich gar nicht alle Schüler mitnehmen können, die bezahlt haben. Ich werde eine Schindler-Liste erstellen. Als erstes fliegt Abdul, der hat bisher noch nicht bezahlt und der kann die 40 Euro dann in Gold anlegen.

Dann streiche ich Mehmet, weil ich den seit der Geldübergabe nicht mehr gesehen habe. Nein, ich habe ihn gesehen, am Donnerstag – vor der Schule – rauchend.

„Sag’ mal Mehmet, was soll denn die Scheiße jetzt.“ Ich bin echt sauer und dann habe ich manchmal ein leichtes Tourettesyndrom. „Heute Morgen hast du gesagt, du gehst mal kurz zur Geschichtslehrerin und dann tauchst du gar nicht mehr auf. Den ganzen Tag nicht!“ Mehmet stammelt, überlegt. Man sieht Dampfwolken aus dem Kopf aufsteigen: „Ich war, ich war,…“ er guckt zu seinem Freund Mustafa, der mit einem Zettel neben ihm steht. „Ich war OSZ.“ „Ach ja? Wo denn?“ „Na OSZ.“ Als gäbe es nur ein Oberstufenzentrum in ganz Deutschland. „Wo war das denn genau?“ Mehmet nimmt den Zttel von Mustafa und sucht nach einer Adresse. Ich hab die Faxen dicke: „Ach lass Mehmet, verarschen kann ich mich alleine.

Der kommt jedenfalls nicht mit. Und dann werde ich die Schüler strafen, die nicht am Donnerstag, sondern ganz mananaesk erst später bezahlt haben. Ich werde denen schon noch die deutschen Tugenden beibringen!!!

Heute Nacht bin ich um 2 Uhr aufgewacht und habe überlegt, ob ich überhaupt fahren soll oder nicht. Ich habe die einmalige Chance, alle vermissten Bücher bezahlt zu bekommen, denn ich habe ja quasi von jedem Schüler 40 Euro. Jedes Jahr heißt es: „Ich schwöre ich habe mein Buch hier bei Sie gelassen. Ich zahle das nicht!“  „Ich habe keins bekommen!“ „Sie haben es geklaut!“ Dass sie dann nur eine Kopie von ihrem Zeugnis erhalten juckt sie wenig. Wenn ich ihnen 20 Euro abziehe und sie nicht mit in den Heidepark können, weil sie mir wahrscheinlich nicht noch mal 20 Euro mitbringen werden, das würde sie ziemlich jucken.

Am Montag knüpfe ich die Buchabgabe als Bedingung an die Mitfahrt in den Heidepark. Als Lehrer hat man so selten die Möglichkeit der Erpressung. Das muss man richtig auskosten.

In meiner  nächsten Klasse werde ich ganz am Anfang Geld für eine Klassen fahrt einsammeln und davon dann die restlichen Jahre die verschollenen Schulbücher bezahlen. Oder ich gebe die nur gegen ein Pfand raus. Ich glaube so was nennt man fächerübergreifendes Lernen. Und ich find’s ganz großartig.

Jetzt wird’s spannend

Vor lauter Aufregung konnte ich gar nicht schlafen. Werden meine Schüler das Geld für den Heidepark mitbringen oder nicht. Wird der ein oder andere an die Einverständniserklärung der Eltern, dass ich für den Tod ihres Kindes, wenn es aus der Achterbahn fällt, nicht verantwortlich bin, denken? Wie viele Schüler werden diesen Brief überhaupt noch haben?

Ich bin mal wieder der Klassenstreber und bin übertrieben pünktlich. Zehn Minuten vor dem Klingeln schlendert Ronnie rein. Grinsend. Gar nicht schlecht gelaunt, wie in den letzten Monaten. Der wird doch nicht etwa Geld dabei haben?

„Was ist mit dir Ronnie, jetzt sag nicht, dass du die 40 Euro mit hast.“ „Hier.“ sagt er stolz und knallt mir zwei Zwanziger aufs Pult. Kramt in seiner Hosentasche und legt die Einverständniserklärung dazu. Ich bin platt und lege gleich eine Liste an: Name / Geld / Brief

Ordentlich schreibe ich: Ronnie / 40 Euro / Brief ja.

Dann kommt Samira: „Hier Frau Freitag, das Geld und der Brief.“ Dann Marcella – Geld, Brief und sogar Jobcenter Zettel. Ich komme aus dem Schreiben gar nicht mehr raus. So gegen 8.20 trudeln die anderen Teilnehmer meiner Klasse ein. Drängen sich um mich und halten mir Einverständniserklärungen und 50 Euroscheine unter die Nase. Ich mache Micha zu meinem Assistenten. Er kontrolliert die Briefe der Eltern. Neben mir steht Ayla und kontrolliert, ob ich auch alles richtig aufschreibe. „Wie viele haben wir jetzt Frau Freitag?“ „Im Moment sind es 13. Wir brauchen 23. Wenn wir nur 20 sind, dann muss jeder noch 2 Euro zahlen. Aber unter 20 geht nicht! Und dann müssen ja noch die aus der Klasse von Frau Dom bezahlen.“ Mehmet hat schon sehr früh bezahlt und wollte dann noch schnell zur Geschichtslehrerin, was wegen der Note regeln. Jetzt fällt mir auf, dass er gar nicht mehr wiederkommt. Er war auch nicht in den nächsten beiden Stunden. Aber bezahlt hat er. Um 8.05 Uhr.

Abdul kommt. Alle schreien: „Abdul, los gib’ Frau Freitag das Geld.“ Ich hab’ kein Geld.“ Alle denken Abdul scherzt und er wird von allen Seiten bedrängt. „Ich habe mich gestern mit meinem Vater gestritten. Ich kann das Geld erst am Montag mitbringen.“

Ich: „Montag ist zu spät. Ich brauche es heute. Du kannst das doch erstmal von deinem Taschengeld bezahlen. Du hast doch Geld. Ihr bekommt doch an den Feiertagen immer so viel Kohle. Leih dir das doch heute zusammen.“

„Nein, ich hab’ kein Geld. Ich hab’ mein Geld in Gold angelegt.“ Dieser Abdul, denke ich, jedes Jahr drei oder vier Ausfälle, aber dann in Gold investieren…

Am Ende der Stunde habe ich von 18 Schülern Geld und Briefe bekommen und sogar überproportional viele Jobcenterzettel.

Ich bin sehr stolz auf meine Klasse und auch auf mich. Wenn ich mich für deren Danebenheit verantwortlich fühle, dann kann ich jetzt auch mal stolz sein. Aber 18 ist nicht 20 und schon gar nicht 23.

Ich gehe ins Lehrerzimmer und erzähle stolz, dass meine Klasse zum ersten Mal zuverlässig war. Dann gehe ich ans Telefon und storniere die Busreservierung.