Yeahhhhh – Ferien!
eine Woche nicht hin
das Leben hat wieder Sinn
ich leg mich hin
keine Schülernasen
keine Lehrerphrasen
keine Witze übers Blasen
nur noch Couch
Nicht mehr früh aufstehen
nicht mehr hingehen
nicht mehr wegsehen
müssen – wenn sie Scheiße bau’n
Keine Vorbereitung
keine Lernbegleitung
keine Wegbereitung
nur noch chill’n
Keine Kopiererschlange
Kein „ach es dauert noch so lange“
Kein „es wird schon wieder“
nur noch fun
kein kopieren
kein studieren
kein dressieren
eine Woche – nur noch ich
keine Noten
keine Toten
keine dreckigen Pfoten
und nur noch mit schwarz schreiben eine Woche und nur noch machen wat ick will. Ist das ein Leben! Mal wieder ist der Lehrerinnenberuf den anderen Berufen überlegen. Sorry. Hättet ihr ja auch alle werden können und ihr Karnevalpeople kommt mir mal nicht mit wir haben ja keine Winterferien und ihr anderen da im Norden – ihr hattet doch gerade noch Weihnachten, oder?
Sinnfrei verabschiede ich mich völlig ausgelaugt vom Tag der Zeugnisübergabe. Tschüüüßßßiiiii!
Der Lehrer kurz vor den Ferien ist wie eine offene Wunde. Er suppt und sappscht, schleppt sich träge, müde, ausgebrannt in die Schule und stöhnt leise vor sich hin. Im Lehrerzimmer fällt er schwer in einen Stuhl und atmet hörbar laut aus. Mitleid kann er von den Kollegen jetzt auch nicht mehr erwarten, denn allen geht es gleich schlecht. Obwohl, wer tänzelt da eben so gutgelaunt durch den Kopierraum? Ein Schulfremder? Ein Elternteil? Nein, es war bestimmt ein Fachlehrer!
Der gemeine Fachlehrer zeichnet sich dadurch aus, dass er keine Klasse hat. Auch Klassenlehrer sind eigentlich Fachlehrer – jeder von uns hat mindestens eins, die meisten zwei und einige Weirdos sogar drei Fächer studiert. Aber der Klassenlehrerstatus überlagert unser Fachlehrerdasein völlig.
Eigentlich ist die Zeit zwischen Weihnachtsferienende und Winterferien – soweit man in einem Bundesland unterrichtet, das solche hat – ein Spaziergang. Nur vier Wochen – das rocken wir doch auf einer Arschbacke ab, denkt man noch Anfang Januar. Aber plötzlich heißt es Noten eintragen. Der Fachlehrer – ist schlau und ermittelt seine Noten schon in den letzten Tagen der Weihnachtsferien. Natürlich macht er das. Und natürlich ist er schlau – denn er war ja nicht so doof sich eine Klassenlehertätigkeit ans Bein zu binden. Dann trägt er seine Noten in die Notenlisten ein und voilà – fertig! Jetzt lehnt er sich zurück und wartet auf die Zeugniskonferenz. Da sitzt er im Publikum und korrigiert irgendwelche Tests und hofft, dass die Klassenlehrer sich diesmal nicht so lange ausmehren, damit er früh nach Hause in seinen wohlverdienten Feierabend kann.
Ganz anders der Klassenlehrer: Auch er muss Noten errechnen. Aber als Klassenlehrer gibt man seinen eigenen Schülern auf jeden Fall noch die Chance sich in den 6 Tagen VOR der Notenabgabe nochmal so richtig zu verbessern. Deshalb sitzt der Klassenlehrer krummbucklig am Abend vor der Zensurenkonferenz und rechnet und rechnet. Am nächsten Tag ist sein Nacken steif, aber das merkt er nicht, denn er rennt den ganzen Morgen wie ein kopfloses Huhn durch das Schulgebäude… Mir fehlen noch die Erdkundenoten… Sportnote von Rosa ist auch noch nicht da… Frau Schwalle wollte die Zensur von Gülistan nochmal hochsetzen.
Ach, ich hatte vergessen, die Woche vor der Konferenz versucht sich der Klassenlehrer durch ein Gestrüpp von Verordnungen zu kämpfen, um die Abschlussprognosen seiner Kleinen zu ermitteln. Für jeden einzelnen Schüler ein komplizierter Rechenweg. Und wenn man dann fertig ist, kommt jemand und sagt – es gibt da aber ein neues Papier und das besagt, dass man seit diesem Halbjahr auch mit blah, blah, blah den MSA erreichen kann und schon sitzt man nochmal über den Prognosen.
Dann schreibt man mehrere Briefe an die Eltern. Blaue, gelbe, grüne, schwarze. Die müssen noch kopiert werden und dann in die Post. Dann alle Noten eingeben. Mindestens 5 Sätze bekommt jeder noch oben oder unten auf sein Zeugnis geballert. Die setzt man natürlich auch gerne mal falsch ein. Was nach oben gehört landet unten usw.
Ausdrucken, unterschreiben, der Schulleitung hinterherrennen, damit die auch unterschreibt, dann kopieren – Vor- und Rückseite – I hate it! Ich will das nicht lernen. Bzw. will ich diese Kopierfunktion wohl immer wieder neu lernen und weigere mich nur, mir zu merken wie das geht.
Dann Fehler finden in den Zeugnissen und ein Kollege sagt dir im Vorbeigehen: „Du weißt, dass du die Auf- und Abstiege auch mit draufschreiben musst, oder?“ Du weißt es jetzt.
Und der Fachlehrer? Der beobachtet die Klassenlehrer, wie sie so aufgescheucht umher rennen und denkt: „Tja.“ Dann geht er zur Schulleitung: „Herr Schulleiter, am Zeugnistag – da habe ich ja erst zur vierten Stunde Unterricht und ich habe doch keine Klasse – ist doch dann okay, wenn ich zu Hause bleibe, oder?“ Der Fachlehrer ist pragmatisch und der Schulleiter auch. „Stimmt, da brauchen Sie dann nicht zu kommen.“
Eins ist mal sicher – im nächsten Leben werde ich auch Fachlehrer!
„Frau Freitag, werden Sie uns vermissen?“ Dilay guckt mich erwartungsvoll mit großen Augen an. Bis zu unserem Auseinandergehen sind es nur noch fünf Monate und ein bisschen.
„Sie wird voll Party machen.“ antwortet Vincent für mich.
Ich überlege. „Na, erstmal werde ich euch nicht vermissen. Aber dann wahrscheinlich schon.“ Damit gibt sich Dilay zufrieden. Und Rosa wittert ihre Chance. „Frau Freitag, aber nicht vergessen. Heidepark – haben Sie uns versprochen.“
Draußen ist noch Mützenwetter und sie kommen mir jetzt schon mit dem scheiß Heidepark. Oh Mann. Aber ich werde nicht drum herum kommen und fahren müssen. Versprochen ist versprochen. „Aber denkt mal an die Abschiedsfeier. Die müssen wir auch noch planen.“ sage ich.
„Da komme ich nur, wenn ich meinen MSA schaffe.“ sagt Gülistan.
„Na, dann hoffe ich, dass du den schaffst. Und Rosa und Dilay, ihr müsst dann natürlich auch kommen. Überhaupt müssen alle kommen, damit wir gemeinsam Gülistans MSA feiern können.“ Ich werde die Klassenziele mal lieber niedrig halten.
Gülistan hat gute Chancen auf den MSA, denn sie weiß, worauf es ankommt.
Heute morgen kam Sarah wutentbrannt in die Hausaufgabenstunde. „Frau Freitag, ich könnt‘ mich sooo aufregen. Frau Schwalle! Was ist mit dieser Frau? Das geht gaaaar nicht! Ich will mich beschweren.“
„Ja, verstehe. Aber dann geh mal gleich zur Schulleitung, ich kann da auch nichts ausrichten.“ Wir führen nicht das erste Gespräch über Frau Schwalle. Gülistan und sie sind wie zwei sich abstoßende Pole – oder Magnete oder sowas. Oder wie ARTE und RTL 2.
Gülistan grinst. „Nein, also über Frau Schwalle muss man sich gar nicht beschweren. Ich komme sehr gut mit ihr klar.“
Plötzlich bäumen sich alle Mädchen in der Klasse auf und fangen wutentbrannt an zu schnauben. Rosa schreit: „Jaaaa Gülistan, weil du bei ihr total schleimst!“
Gülistan grinst zufrieden. „Also ich habe immer gute Noten bei ihr.“
„Tja Sarah, kannste mal sehen. Gülistan weiß eben, wie das geht. Darum wird Gülistan auch ihren MSA schaffen.“
Gülistan: „So sieht’s aus.“
„Und darum wird sie auch in die Oberstufe kommen.“
Gülistan. „Ganz genau. Tja, Sarah.“
Sarah schnaubt vor Wut und grinst dabei aber trotzdem. Ich gebe ihr mal besser noch einen wertvollen Tipp mit.
„Sarah, vielleicht solltest du statt dich zu beschweren, dich mal genauer mit Gülistan unterhalten. Hehe.“
Von der ersten Sekunde in der Tarik mit den anderen Siebtklässlern meinen Raum betrat, wußte ich – der braucht eine Sonderbehandlung. Tarik ist ziemlich groß und sehr kräftig für sein Alter – was heißt für sein Alter – ich weiß gar nicht wie alt er ist. Vielleicht ist er nur zu groß für die siebte Klasse, weil er eigentlich schon in der Achten sein müsste. Tarik ist jemand, den du dir notgedrungen direkt vor die Nase setzt, um ihm erst gar nicht die Möglichkeit zu geben von hinten links deinen Unterricht zu zerstören. Tarik lebt in seiner dunkelblauen Daunenjacke, die er immer bis ganz oben zumacht. Ich heize meinen Raum auf Tropentemperaturen, aber Tarik ist so ein Typ, der seine Jacke trotzdem anlassen möchte. Es erfüllt mich schon ein wenig mit pädagogischem Stolz, dass er in meinem Unterricht seine Jacke auszieht. Auch wenn es 15 Minuten dauert.
Tarik ist so eine Mischung zwischen Pitbull und Baby. Jeden Montag guckt er mich mit seinen traurigen Sylvester Stallone Augen an und versucht mir gleichzeitig einen Bleistift aus meiner Stiftebox zu klauen, obwohl er eigentlich immer einen eigenen Bleistift dabei hat.
Bei Tarik habe ich von der ersten Stunde die Taktik des ‚Besten Mannes‘ angewendet. „Tarik, los, nun fang mal mit der Aufgabe an.“ dann habe ich mich zu ihm gebeugt und geflüstert: „Du bist doch mein bester Mann hier in Kunst.“ Auf dem Hof schreie ich ihm entgegen: „Hallo Tarik, mein bester Mann“. Und er boxt mir von hinten auf den Oberarm, wenn ich ihn noch nicht gesehen habe. Seinem Klassenlehrer erzähle ich immer, wenn es mit Tarik gut lief. Es ist offensichtlich, dass es für Tarik nicht selbstverständlich ist, dass es im Unterricht gut läuft.
Tarik braucht enorm viel Zuwendung. Die bekommt er auch meistens, wenn die anderen Schüler mich nicht zu sehr in Anspruch nehmen.
„Frau Freitag, ich bin fertig.“
„Tarik, an dem Bild kannst du aber noch sehr viel verbessern. Und du sollst es ja auch noch kolorieren.“
„Frau Freitag, welche Farbe jetzt?“
„Hellblau“
Tarik malt etwas mit hellblau aus.
„Frau Freitag, und jetzt?“
„Lila, würde ich sagen.“ Er nimmt den lila Filzer und koloriert.
„Und jetzt?“
„Pass auf Tarik, ich lege die Stifte jetzt in genau der Reihenfolge hin, wie du sie benutzen sollst.“
Das geht ganz gut und ich habe drei Minuten Ruhe. Dann wird es Tarik zuviel und er gibt Firat, der neben ihm sitzt und nur halb so groß ist wie er, einen fetten Nackenklatscher.
„Tarik! Lass das!“
„Aber war nur Spaß.“
Ich gucke mir Firat an, der den Kopf einzieht.
„Ja, für dich vielleicht, aber nicht für ihn. Komm, wir malen weiter aus. Tarik malt auf der einen Seite und ich beuge mich über meinen Lehrertisch, male auf der anderen Seite und lege Tarik die Farben zurecht.
Heute war Tarik irgendwie nicht gut drauf. Das Jackeausziehen dauerte länger, dann suchte er stundenlang nach seinem Bleistift und schließlich stänkerte er mit Firat.
„Firat, setz dich mal weiter nach hinten.“ sage ich und Firat packt seine Sachen und geht. Tarik spring sofort auf. „Dann gehe ich auch nach hinten!“
„Nein, du bleibst hier.“
„Nein, ich will auch nach hinten.“
„Tarik, ich brauch dich hier vorne.“ Tarik setzt sich langsam auf seinen Stuhl „Du bist doch mein bester Mann.“
Die Stunde plätschert so dahin und als es ans Aufräumen geht, sehe ich, dass Tarik hinten bei Firat ist. Er steht vor dem kleinen Firat und hat seinen Schuh auf dessen Stuhl abgestellt. Firat bindet ihm die Schnürsenkel zu. Bildgewordene Demütigung. Ich fange innerlich an zu kochen.
„TARIK! KOMM SOFORT HIER HER!“
Tarik guckt verwirrt zu mir. Wieder dieser traurige Blick. Hängende Stallone Augen. Er nimmt seinen Schuh von Firats Stuhl und kommt zu mir an den Tisch. Ich gucke runter. Der Schnürsenkel ist noch offen. Plötzlich denke ich: Oh. Vielleicht…
Ich beuge mich zu Tarik und frage leise „Kannst du keine Schleife machen?“
Und er schüttelt den Kopf.
„Okay, dann setzt dich mal zu mir und zieh den Schuh aus.“
Das macht er.
Ich nehme den Schuh und binde eine Schleife. Dann er. Wir üben und üben. Es ist nicht leicht, denn die Schnürsenkel sind zu kurz und Tariks Finge sehr dick. Aber er gibt nicht auf. Obwohl er immer wieder flüstert „Ich kann das einfach nicht, das hat man mir schon so oft gezeigt.“
Ich sage: „Doch Tarik, das kannst du. Das ist ganz einfach.“
Und kurz vorm Klingel binden wir gemeinsam die erste kreplige Schleife.
„Tarik, das üben wir in der nächsten Stunde und dann kannst du das! Versprochen!“
Er nickt, lächelt und geht. Er ist ja auch mein bester Mann!
„Mann Sila, du musst doch nur das Arbeitsblatt machen. Alles was da drauf ist kommt auch in dem Test vor.“ sagt Gülistan in der Hausaufgabenstunde.
„Aber…“
„Nichts ABER! Mach einfach die Aufgaben auf dem Blatt!“
Gülistan dreht sich wieder nach vorne und schüttelt den Kopf.
„Dieses Mädchen… unglaublich.“
Sila beugt sich unwillig über das Arbeitsblatt und fängt an zu rechnen.
Ich bin von Gülistans Auftritt immer noch beeindruckt.
„Gülistan, du sollltest wirklich Lehrerin werden. Vor dir hätten die Schüler voll Angst. ‚Auweia, los, schnell, Frau Kirian kommt‘!“
Gülistan grinst. „Ja, Kunst und Sportlehrerin wäre gut.“
Ich: „Kunst und Sport – perfekt!“
„Bekommen alle Lehrer gleich viel Geld?“
Ich nicke.
„Und Gülistan, das Kunststudium macht total viel Spaß. Man malt und druckt und eigentlich geht man immer nur mit den anderen Mädchen Kaffee trinken in der Cafeteria.“
Gülistan denkt nach.
„Bekommt man als Lehrer in den Ferien auch Geld?“
„Natürlich!“
Gülistan ist schon fast überzeugt.
„Und nicht nur in den Ferien, im November bekommt man immer Weihnachtsgeld. Das sind 45% vom Bruttolohn.“ Sofort bin ich an der Tafel, um zum 1000sten Mal meinen Bruttolohn dran zu schreiben. 4700 Euro.
„… also das ist das Bruttogehalt. Da geht natürlich noch was von weg. Kommt drauf an, ob man verheiratet ist oder Kinder hat.“
„Für Kinder bekommt man auch noch Geld?“
„Ja klar!“
Gülistan dreht sich zu Sila. „Dann bekomme ich fünf Kinder. Mindestens.“
„Aber Gülistan, denk mal dran, dass Kinder auch was kosten. Rechne einfach mal zusammen, was du diesen Monat gekostet hast. Handyrechnung, Klamotten, Essen…“
Der Kinderwunsch wird nun doch noch mal überdacht.
Jetzt meldet sich Rosa. „Frau Freitag, also in Sport. Bekommt man sein Geld auch, wenn keiner mitmacht?“
„Wie meinst du das?“
„Na, wir Mädchen, wir machen doch oft bei Sport gar nicht mit. Kriegt man dann weniger Geld?“
Was für ein absurder Gedanke, denke ich. Darauf muss man erstmal kommen.
„Nee Rosa, stell dir mal vor, man würde nur Geld bekommen, wenn die Schüler mitmachen und was lernen. Wer würde euch denn dann unterrichten wollen? Oh, ich brauch noch ein bisschen Geld diesen Monat, für den Urlaub, geben sie mir bitte einen E-Kurs.“
Oh Gott, hoffentlich kommt nie ein Politiker auf diese Idee. Es liessen sich so einige Millionen damit einsparen.
Die Noten die Noten
Gehörten verboten
Härter als meine Schulbroten
Kamen sie als Vorboten
In meine Klasse
Und das Versagen der breiten Masse
Gesichter erstarrt zur Grimasse
Jedes Jahr das Gleiche – wie ich das hasse
Jedoch Frau Freitag – hat im Ärmel die Asse.
„Waaaaaaas, in Deutsch eine fünf?????“ schreit Rosa.
„Tja.“ sage ich.
„Frau Freitag, wirklich? Eine fünf????“
„Ja, keine Ahnung, musst du Frau Schwalle fragen.“
„Jetzt mal ganz ehrlich, steht dann auf dem Zeugnis Deutsch fünf?“ Rosa kann es nicht fassen. Eigentlich sollte sie ihre Deutschnote gar nicht so sehr überraschen, denn sie war an deren Schlechtigkeit ja nicht ganz unbeteiligt.
„Auweia, wie soll ich mich denn damit bewerben?“
„Tja.“ Mehr fällt mir dazu auch nicht ein.
Alle Schüler haben sich schon auf den Hof begeben, nur Rosa und ihre BFF Dilay scharwenzeln noch um meinen Schreibtisch.
Dilay fixiert mich mit ihren großen, braunen Augen und grinst. „Frau Freiiii-taaaag?“ Ich trage gerade die Vokabeltestnoten in mein Zensurenheft ein. Diesen Tonfall kenne ich doch – dazu muss man keine eigenen Kinder haben, um zu wissen, dass Dilay irgendetwas Ungewöhnliches von mir will.
Ich gucke sie an.
„Ja Dilay?“
„Frau Freitag, wer schreibt eigentlich die Noten in die Zeugnisse?“
Was für eine komische Frage… alles was der Klassenlehrer machen kann, muß der Klassenlehrer machen. Das wäre dann also ich.
„Ich. Wieso?“
Dilays Augen werden noch größer und auch Rosa scheint ihren Kummer über die Deutsch fünf vergessen zu haben.
„Frau Freitag, dann können sie doch einfach bei Rosa eine vier reinschreiben.“
„Hähhh?“
„Na, Sie MÜSSEN doch gar nicht die richtige Note eintragen. Schreiben Sie einfach Deutsch – Note vier.“
Ich glaub ich spinne. Auf was für Ideen kommen die denn?
„Das DARF ich aber nicht.“
Jetzt rücken sie beide noch näher an mich ran. Rosa ist kurz davor sich zu mir auf den Schoss zu setzen.
„Frau Freitag, das merkt doch keiner.“ Womit sie wahrscheinlich Recht hat. Denn ich bezweifle, dass sich Frau Schwalle das ausgedruckte Zeugnis von Rosa angucken wird.
„Sagt mal Kinder, ihr habt ja Ideen… das ist illegal.“
„Wir verraten auch nichts!“
Ich grinse über soviel Dreistigkeit, was sie allerdings falsch deuten.
Dilay kennt sich aus und legt sofort nach: „Frau Freitag, kommen Sie. Wie wäre es mit einem schönen Urlaub in der Türkei.“
Jetzt muss ich wirklich laut lachen und schiebe die beiden zur Tür raus.
Aber auch im Treppenhaus lassen sie nicht locker. Ich schüttle den Kopf und gehe zum Rauchen vor die Schule.
Und jetzt muss ich erstmal gucken, ob ich noch einen Türkeiflug zum Frühbucherrabatt bekomme.
Neee, nee, Spaaaaaaß!
„Hallo Frau Freitag,
Ich hatte gerade mitbekommen, dass irgendetwas hier mit ISIS ist und angeblich sollen wir keine Schule haben morgen und ich wollte fragen, ob das stimmt.“
Ich denke: Hä??? Hab ich etwas nicht mitbekommen? Ich war gestern abend beim Sport und dann im Kino – vielleicht gibt es in Berlin eine Terrorwarnung und sie haben den Satz gesagt, den ich mir für jede Tagesschau wünsche: „Öffentliche Gebäude und Schulen bleiben bis auf weiteres geschlossen.“
Aber ISIS? Ich will nicht, dass die ISIS hier irgendetwas plant. Ich will überhaupt keine ISIS. Allerdings keine Schule… ich habe Montags immer die anstrengende Siebte… keine Schule wäre ganz schön angenehm.
Ich klicke mich durchs Internet. Tagesschau in 100 Sekunden. Keine Terrorwarnung. Nur bei Pegida. In Dresden. Denkt Rosa wir leben in Dresden? In Erdkunde ist sie nicht gut. Aber wo sie wohnt, dass sollte sie schon wissen.
Naja, 100 Sekunden sind ja auch nicht viel. Vielleicht hat die Terrorwarnung für die Hauptstadt da zeitlich nicht reingepasst. Vielleicht ist das zu regional. Ich klicke mich zu den Online-Auftritten der Printmedien.
Belgien lässt die Schulen am Montag zu. Belgien – Berlin – Belgien… beides fängt mit B an. Könnte man verwechseln, wenn man möchte, oder? Die Schüler sind doch auch immer sehr gut darin aus dem Vertretungsplan die Variante zu lesen, die ihnen entgegenkommt.
„Morgens stand da noch Ausfall.“
„Ja, aber in der ersten großen Pause stand da, dass Frau Schwalle Mathe vertritt.“
„Da haben wir aber nicht noch mal drauf geguckt.“
„Jüdische Schulen bleiben geschlossen“ steht in irgendeiner Überschrift. Denkt Rosa, wir seien eine jüdische Schule? Könnte sein. Ist allerdings eher unwahrscheinlich.
Ich finde jedenfalls nichts, was mein Fernbleiben vom Unterricht heute morgen rechtfertigen könnte und deshalb muss auch Rosa zur Schule. Um 7.05 Uhr schreibe ich ihr:
„Nein. Ganz normal Schule heute.“
Sie antwortet: „OK“
Und ich spüre die große Enttäuschung, die diese zwei Buchstaben transportieren. Ich bin auch enttäuscht. Ich wäre auch gerne im Bett geblieben. Und dann irgendwann um 11.00 Uhr aufgestanden und hätte die Wiederholung vom Dschungelcamp geguckt… „aber nicht für irgendwas mit ISIS“. Irgendwas mit ISIS will ich NICHT. Dann lieber Schule! Sogar lieber Unterricht in der Siebten, als irgendwas mit ISIS.
Vorhin frage ich dann Rosa:
„Sag mal Rosa, warum hast du denn nun gedacht, dass die Schule ausfällt?“
„Auf Facebook hatte jemand geschrieben, dass die ISIS nach Berlin kommt.“
Seit Stunden durchforste ich nun Facebook, aber bisher habe ich noch nichts gefunden, was den ISIS Einmarsch ankündigen würde. Aber wenn ich was finde, dann sage ich euch Bescheid. Versprochen.
Ich bin ein bisschen enttäuscht. Wovon? Nicht von den Halbjahreszensuren meiner Klasse – um davon enttäusch zu sein hätte ich da Großes erwarten müssen, was sich nun nicht erfüllt hat und so ist es nicht. Auch nicht vom Wetter. Das Wetter ist einfach immer so wie es ist, und da muss man auch nicht enttäuscht sein, sondern einfach mitmachen.
Nein, ich bin enttäuscht vom Dschungelcamp. Ja, ich gucke so einen Scheiß. Wird hier wohl auch niemanden überraschen, bin ich doch bekannt für meinen Vulgärgeschmack. Ich kann im Fernsehen überhaupt nur noch Sachen mit Werbeunterbrechung gucken. Ich brauche diese Lücken! Wann sollte ich sonst aufs Klo gehen oder bei Facebook nachlesen, wer was gegessen hat?
Ich freue mich immer auf das Dschungelcamp. Aus mehreren Gründen.
1. Da ist immer Sommer, wenn hier Winter ist. Das ist schön.
2. Man kann sich abends drauf freuen.
3. Es beginnt immer zwei Wochen vor den Winterferien und wenn es vorbei ist, dann hat man frei.
4. Ich kann überhaupt nicht genug davon bekommen zu beobachten, wie sich Menschen in Gruppen verhalten.
Und gestern ging es also endlich los. Aber irgendwie war es langweilig. Mir ist es egal, ob die Leute da sagen, dass sie in den Dschungel gehen um Geld zu verdienen, oder wegen der Grenzerfahrung. Mir ist es auch egal, dass da diesmal kein „richtiger Promi“ dabei ist. Aber die Truppe gestern… naja, vielleicht entwickeln die sich noch. Viel Interessantes gab es da irgendwie noch nicht. Ich bin am Ende sogar eingeschlafen. Ich hatte sogar Besuch vom Jurafreund und ich bin eingeschlafen. Wie peinlich! Und heute morgen war er weg.
Inhaltlich möchte ich zu der Sendung gestern gar nichts schreiben, denn wie gesagt – langweilig.
Die müssen sich ja auch alle erstmal kennenlernen. Vielleicht sollte man mal eine Gruppe da hinschicken, die sich schon kennt. Ich würde gerne mal mit meinen Kollegen dort sein. Mit allen! Das wäre interessant. gerne würde ich auch meine Klasse dort zwei Wochen beobachten. Zugucken, wer am Ende noch lebt. Die hätten dort große Schwierigkeiten mit den Insekten und dem Essen. Die Mädchen und die Jungen. Aber die Gespräche wären wahrscheinlich interessanter. Ich könnte vor dem Fernseher sitzen und mir notieren, wo gefährliches Halbwissen ist, dass bis zum Schulabschluss noch nachgebessert werden muss. Meine Klasse würde auch besser aussehen, als die Typen, die jetzt drin sind. Diese Dschungelprüfungen sollten dann aber anders sein. Vielleicht mehr so in Richtung BBR und MSA (Berliner Schulabschlüsse). Wer gut abschneidet kann den Schulabschluss behalten.
Zwischendurch könnten die Schüler versuchen Mietverträge, Überweisungen und Krankenkassenanmeldungen auszufüllen. Sie hätten ja genug Zeit. Schöner Nebeneffekt – Ausbildungsbetriebe könnten sich Kandidaten aussuchen, die sie nach der Show übernehmen wollen. Zwei Wochen Dauerbeobachtung im Dschungel schlägt doch jedes Bewerbungsschreiben und alle Einstellungsgespräche bei Weitem.
Die Kinder wüßten am Ende auf jeden Fall, dass Australien übertrieben weit weg ist und dass die da im Bezug auf die Jahreszeiten anders ticken, als wir.
Und ich hätte zwei Wochen Ruhe. Denn ich wäre freigestellt – zur Bedingungsfeldanalyse vor dem Bildschirm.
„Frau Freitag, warum werden die Lehrertoiletten gründlicher geputzt, als die Schülertoiletten?“, fragt Esra heute am Ende der Stunde.
„Werden sie doch gar nicht.“ Und woher will denn Esra eigentlich wissen, wie die Lehrertoiletten aussehen?
„Wir Lehrer schmeißen nur keine Toilettenpapierrollen ins Klo und pinkeln auch nicht daneben.“
Esra denkt nach. Sie pinkelt bestimmt persönlich nicht daneben und sie hat schon recht. Wir Lehrer haben bessere Toiletten als die Schüler. Wir haben es in der Schule sowieso besser als die Schüler. Jeden Tag danke ich dem Herren, dass ich die Schule nicht als Schüler, sondern als Lehrer betreten darf. Ich habe Schlüssel, ich habe Lehrerzimmer, ich habe eine Lehrertoilette. Und ich habe die Macht!
„Mögen Sie Kinder?“ fragt Esra plötzlich.
„Klar, sonst wäre ich ja nicht Lehrerin geworden.“ antworte ich reflexartig. Denke dann aber nochmal nach… „Obwohl… man könnte auch gerade Lehrer werden, weil man KEINE Kinder mag.“
Esra grinst. „Jaaaa, immer so voll gemein sein und schlechte Noten geben!“
Die Stimmung ist gut. Und wenn die Stimmung gut ist, dann kommen immer ein paar persönliche Fragen: Warum heiraten Sie nicht mit Ihrem Freund? Wie alt waren Sie noch mal? Warum sind Sie Lehrer geworden?
Man kann diese Fragen wahrheitsgemäß beantworten, muss man aber nicht. Man kann auch immer wieder was anderes erzählen. Die „Warum ich Lehrerin geworden bin“-Frage umschiffe ich oft mit einem ominösen „Das war eine Verquickung von unglaublichen Zufällen und jetzt schlagt mal eure Bücher auf.“
Irgendwie scheint die Schüler diese Frage aber brennend zu interessieren. Wieso will jemand so einen doofen Job machen? Die Schüler wissen ja selbst am Besten, wie unasstehlich und anstrengend sie sein können.
Neulich erzählte Herr Werner, dass ihn seine Klasse auch gefragt hat, wie es zu seiner Berufswahl kam. Seine Antwort: „Denkt ihr denn wirklich ich mach das hier freiwillig? Bei mir hieß es damals: entweder lebenslänglich in den Knast oder Lehrer werden.“
Die Schüler: „Echt???“
Er: „Na klar und das war nicht nur bei mir so. So war das bei allen Lehrern an unserer Schule.“
Und die Schüler… die haben das geglaubt und dafür liebe ich sie!
„War der nicht Sänger?“
„Nein, Nelson Mandela war kein Sänger! Ich habe euch doch jetzt schon 100 Mal erklärt, wer Nelson Mandela war.“
Sie raffen es immer noch nicht. Vincent denkt ich lüge ihn an und die anderen trauen meinen Worten auch nicht. Dabei haben wir jetzt sogar den Text über Robben Island und das Gefängnis („Ahhhhh, prison! Prison break! Gefängnis!“) gelesen.
Meine Schüler haben oft sooo dermaßen keinen blassen Schimmer von der Welt. Und dann höre ich heute morgen im Frühstücksfernsehen, dass irgendeine Schülerin einen Twittertext (sorry ich kann nicht Tweed schreiben – das Wort ist so ekelhaft) in die Welt geschickt hat, in dem sie sich wohl darüber beschwerte, dass sie in vier Sprachen Gedichtanalysen machen kann, aber nicht weiß, wie man einen Vertrag mit der Krankenkasse macht oder die Miete zahlt oder sonst was Profanes. Daraufhin wurde dann gleich ein „Spezialist“ befragt. Ausgerechnet der Quereinsteiger/Ersatz-Aushilfslehrer, der jetzt gar keiner mehr ist, sich aber immer noch in der Rolle des Bildungsexperten gefällt. Kam allerdings auch nichts Vernünftiges raus – also aus der Befragung.
Nein, man lernt in der Schule nicht, wie man sich bei der Krankenkasse anmeldet. Habe ich auch nicht gelernt und trotzdem bin ich krankenversichert. Ich habe sehr viele Dinge, die ich heute kann, nicht in der Schule gelernt. So what? Man hört doch nach dem Schulbesuch nicht auf zu lernen. Und ich bin mir sicher, dass das Mädchen mit den Gedichtinterpretationen all die Alltagsdinge meistern wird, wenn sie muss.
Die Konsequenz wäre ja, dass wir den Schülern nur beibringen, wie sie HartzIV-Anträge ausfüllen oder Überweisungen schreiben (das lernt man übrigens in der Schule.). Und dann können sie das, aber wissen nicht, wer Nelson Mandela ist. Das möchte ich nicht! Wir haben im Unterricht sowieso so wenig Zeit und es gibt noch so viel, was ich denen beibringen möchte.
Ich höre schon einige sagen, dass es doch egal ist, ob sie Mandela kennen oder nicht. NEIN! Das ist nicht egal! Und ich möchte auch, dass sie wissen, dass es die Berliner Mauer gab und warum die Weltkriege stattgefunden haben und wo Amerika liegt und wie man schwanger wird und wie man nicht schwanger wird und was der Staat mit den Steuern macht und wer überhaupt der Staat ist.
Und wenn sie das mit der Krankenkasse später nicht können, dann dürfen sie gerne mal vorbeikommen und ich helfe ihnen dabei. Aber sie sollen auf keinen Fall denken, der tolle Song im Radio ist von Nelson Mandela.