Kontrollverlust und Himbeertorte

Emre fragt:“ Frau Freitag, haben sie sich schon mal so gefühlt, als ob Sie auf dem Boden liegen und jemand tritt Sie und Sie fangen an sich zu drehen und dann stehen Sie auf und laufen zu einer Himbeertorte und können die gar nicht hochheben?“

„Komme ich gerade so verpeilt rüber, Emre?“ frage ich zurück.

Und jetzt weiß ich genau was er meint. Ich fühle  mich genau so. Stundenlang auf dem Boden im Kreis gedreht worden und jetzt versuche ich diese blöde Torte zu greifen. Mir ist ein wenig schlecht – zuviel geraucht, zuviel Tee und mein Computer ist vorhin kaputt gegangen. Irgendwie scheint der Treiber der Grafikkarte Amok zu laufen. Jetzt versucht der arme Computer sich seit mehr als einer Stunde hochzufahren. Ich habe auch schon versucht ihn vom Staub zu befreien, sogar mit aufschrauben, weil ich dachte es sei vielleicht nur asthmatisch bedingtes keine Luft kriegen. Aber noch ist alles kaputt. Ich bleibe relativ ruhig, auch beim Gedanken, dass vielleicht alles, was sich auf dem Computer befindet ins Nirvana wandert.

Und Frau von Welt hat natürlich stylischen Zweitcomputer für den Schoß, wenn man auf der Couch ruht. Auf dem schreibe ich gerade und der ist ja absturzsicher. Ja, ich bin recht gelassen. Nach meinem Unterricht in der Siebten Klasse kann mich heute auch nichts mehr schocken. Unterricht kann man das allerdings nicht nennen, was ich dort veranstaltet habe. Eher intensive Betreuung. Oder sagen wir mal – ein Erwachsener nervt 25 Kinder  und am Ende kommt gar nichts bei raus. Heiserkeit beim Erwachsenen und Stress bei den Kindern. Gelernt hat kaum einer was.

Ich habe der Klasse versprochen, dass sich nach den Herbstferien alles ändern wird. Gruppentische, Binnendifferenzierung, Wochenplan, Stationenlernen, Computerraum, Laufdiktate – sie waren begeistert. Und in den Herbstferien werde ich das alles vorbereiten. Sie können sich von mir erholen.

Diese öddeligen Herbstferien sollen jetzt echt mal langsam antanzen. Die sind ja eh immer total kurz, aber jetzt können die echt mal bald anfangen. Langsam bin ich ferienreif.  Das merke ich an meiner zunehmenden Bocklosigkeit. Frau Dienstag hat auch keine Lust mehr – denkt schon daran ihren Beruf zu wechseln – sie braucht allerdings nur mal ein paar Ferien.

Nur Frl. Krise braucht die nicht. Die könnte auch ein gesamtes Schuljahr durch unterrichten. Die ist so was von hart im nehmen. Wird nie krank, hat immer Lust in die Schule zu gehen, springt morgens um halb sechs gutgelaunt aus dem Bett, ist immer die Erste und die Letzte im Lehrerzimmer und erhebt nie die Stimme. Konsequente Zugewandheit, Empathie und Gerechtigkeit, das sind ihre Stärken und  dieses unglaubliche natürliche Autorität. Ich will das auch alles. dann bräuchte ich auch keine Ferien. Und Frl. Krise würde wahrscheinlich auch die Himbeertorte greifen können, obwohl sie sie noch nicht mal essen würde.

Was Halsschmerzen, ja?

Da denke ich nun seit Tage, dass ich an einer Erkältung arbeite, die nicht richtig ausbricht. Aber das sind gar keine Bazillen oder Viren, die mir so zusetzen. Ich weiß jetzt was ich habe! Ganz klar: Ich habe Pubertät!

So, wie sich Frl. Krise das heute gewünscht hat. Vielen Dank auch. Ich habe schlimme Spätpubertät. Fing mit Halsschmerzen an. Und jetzt: immer müde, keinen Bock irgendwas vorzubereiten, was mit Unterricht zu tun hat. Ich räume weder auf, noch habe ich geputzt oder den Müll runtergebracht. Das gute an so einer  Spätpubertät ist ja, dass man nicht mehr die Eltern um sich rum hat, die einen ständig auffordern den Müll runterzubringen. Bleibt der Müll eben oben. Bleibt das Zimmer eben unaufgeräumt. Verkeimt halt alles.

Weitere eindeutige spätpubertierende Verhaltensweisen: gestern auf der Konferenz habe ich weder stillsitzen können, noch habe ich irgendetwas verstanden. Zuhören – geht gar nicht. Mit dem Nachbarn reden und Briefchen schreiben – geht super. Vorhin wollte ich mir was zu Essen kaufen – wohin gehe ich? In die Drogerie. Vergleiche Wimperntusche und Haarkuren. Wie alle pubertierenden lasse ich mich von Werbung einlullen und zum Kauf verführen. Statt mit Lebensmitteln verlasse ich den Laden mit Panten Pro V dem Testsieger. Die Haarkur für gesund aussehendes Haar. Der Erwachsene in mir dachte neulich noch altklug: Gesund aussehendes Haar. Ist also eigentlich krankes Haar. Sieht ja nur gesund aus. Wer soll denn so was kaufen. Die Spätpubertierende denkt nur: Testsieger!!! Muss ich haben. Was kranke Haare? Ist doch voll Testsieger.

Ihr stellt euch meine Spätpubertät bestimmt schön vor. Ich sag euch, das ist kein Zuckerschlecken. Ständig nachts raus und mit den anderen Spätpubertierenden an der Bushalte stehen, rauchen, Alkopops trinken und immer dummer Sprüche kloppen. Auch wenn man voll müde ist darf man nicht gehen, weil die anderen dann über einen lästern, wenn man weg ist. Und wenn man dann endlich zu Hause ist, dann darf man auch nicht schlafen, weil man dann alles nochmal mit den Kumpels und den ABFs alles auf facebook auswerten muss: war geil der abend. yane, vallah voll king heute, wie er meinte und sie dann und ich dann ich hab mich weggepackt….

Ich kann euch sagen Spätpubertät rate ich nicht meinem ärgsten Feind. Das packst du nicht so locker weg, wie so eine luschige Bronchitis. Und was am Schlimmsten ist: Ich muss auch noch jeden Tag in die Schule!

Ach, Herr Rach…

Ach, irgendwie geht es mir nicht gut. Ist es der Anflug von einer Erkältung, Gruppe, Bronchitis oder ist es einfach nur Schantalles Rache für meine Gemeinheit. Oder Gottes Strafe für meine bösen Gedanken – andere Kollegen anstecken, den Test gestern nicht verschoben haben, meinen Unterricht nicht vorschriftsmäßig kleinstteilig vorbereiten, nicht besonders geduldig mit meiner verpeilter Klasse sein. Mit Ruhm und pädagogischen Glanzleistungen habe ich mich heute nicht gerade bekleckert: Peter habe ich die Kürbiskerntüte entreißen wollen, obwohl er sich damit endlich bei allen seinen Klassenkameraden, die ihn sonst nie beachten, einschleimen wollte. Nachdem ich ihm doch nur drei Mal gesagt hatte, dass er die Dinger wegpacken soll – ich käme mir vor wie in einem Vogelkäfig – habe ich mich völlig unvermittelt auf die Tüte gestürzt und mir eine total peinliche Rangelei mit ihm geliefert. Mit einer entsetzt zuschauenden Klasse. Die Tüte habe ich noch nicht mal bekommen.

Dann habe ich Christine mehrfach angemeckert, dass sie Mariam nicht dauernd die Haare kämmen soll. Wieso bin ich so gemein? Die Haare müssen doch gekämmt und geflochten werden. Und ständig mache ich ihnen Stress – Englischarbeit, Realschulprüfungen, sich bewerben, um so was Überflüssiges wie einen Ausbildungsplatz… mich wundert, dass Gott mir bei soviel Gemeinheit nur ein paar läppische Halsschmerzen schickt und nicht gleich einen Schlaganfall.

Die können doch alle bei Rach dem Restauranttester in die Ausbildung gehen. Die erfüllen alle die Voraussetzung: Machen keine Hausaufgaben, kommen super gut zu spät, sind leicht verpeilt und schnell überfordert, dafür aber auch für jeden Scheiß zu haben und man kann so gesehen eine Menge Spaß haben. Herr Rach, wollen Sie nicht meine Klasse haben? Bilden Sie die mal aus – ist egal zu was. RTL soll das filmen und ich bleibe auf der Couch und kuriere meine Halsschmerzen aus. Deal?

Was soll der Scheiß jetzt?

Jetzt hab ich den Salat. Meine ganzen Vorsichtsmaßnahmen in Sachen Krankheitsprävention waren für die Katz. Dabei habe ich in den letzten Wochen sicher 7m Abstand von den schniefenden Kollege gehalten, wenn ich mit ihnen redete. Falls sie mir am Vertretungsplan von hinten oder seitlich mit ihrem konterminierten Tröpfchenmist zu nahe kamen, habe ich demonstrativ meinen Hefter zwischen mich und sie gehalten und wütend gefaucht:

„Du bist ja immer noch krank.“ Die Kollegin lächelt leicht schuldbewußt, aber irgendwie sehe ich auch diesen Märtürer-mäßigen-ich komme-trotzdem-auch-wenn-ich-krank-bin-Blick. Auf ein Lob von mir können sie lange warten. „Mann, bleib doch zu Hause verdammt. Du steckst uns doch alle an. Willst du mich anstecken???? Ich will nicht krank werden!!!“ Die kranken Kollegen sind dann echt verwirrt, weil sie eigentlich ein Lob von mir erwarten, oh, wie toll, dass du auch krank zur Arbeit gehst. Aber einen Dreck werden sie von mir bekommen. Lob-my ass. I hate you sick people in school.

Jedenfalls hat meine Anmecker nix genutzt. Seit gestern habe ich Halsschmerzen. Ich versuche die mit Tee, Kaffee und Zigaretten zu ertränken und auszuräuchern. Mal sehen, ob das gelingt. Meine Wut auf diese AsssiKollegen wird jetzt noch größer. Und es sind vor allem ALLES Neue Kollegen, die uns Alte da anstecken. Was meinen die denn, dass die sich besonders doll einschleimen müßten? Fuck them. Ich bin echt sauer. Am Liebsten würde ich sie schlagen.

Frl. Krise sagt das seien gar nicht die Viren und so, die rumfliegen und mich angreifen, das hätte viel mehr mit meinem Immunsystem zu tun. Einen Dreck hat das mit meinem System zu tun. Mein System ist King ja?

Aber die sollen nur waren, diese Kranken in die Schule geh Kollegen – wenn die wieder ganz gesund sind, dann komme ich in die Schule krank – sehr krank- und sehr ansteckend und klebe mich an sie, fasse alles an, was ihnen gehört, spucke auf ihre Kaffeetassen, begrapsche ihre Stifte und lecke den Griff ihrer Schultasche und die Klinke zu ihrem Raum an. Und dann könn‘ sie mal sehen und das mache ich direkt VOR DEN FERIEN!

In der wilden Natur

Wandertag mit meiner süßen Klasse. Wir wollen uns in die Natur begeben. Erstmal kommen nur Ronnie und Christine. Die haben sich in der Siebten und Achten immer nur gestritten. Jetzt stehen sie ruhig nebeneinander und erzählen sich, mit welchen Bussen sie gekommen sind und wo man umsteigen musste. Wir wollen um 10 Uhr los.

Um fünf vor zehn stehe ich immer noch mit Christine und Ronnie und keinem anderen Schüler am Treffpunkt und warte. Zum Glück kommt wenigstens mein Kollege Herr Müller mit. Herr Müller ist der neue Kolleg, naja, mittlerweile ist er auch schon ein halbes Jahr bei uns. Wir rauchen immer zusammen und er ist sehr nett, etwas freakig. Ich hatte ihn gefragt, ob er nicht mitkommen möchte, da er ganz in der Nähe der Natur wohnt in die wir gehen wollen. Außerdem unterrichtet er viele Schüler meiner Klasse und hat erst den Kontakt zu meinen Mädchen gefunden:

„Sag’ mal Frau Freitag, was ist mit diesem Emre… ist hat doch nichts drauf, oder?“

„Nein, nein, Emre ist okay. Der ist ziemlich schlau. Der wirkt immer sehr verschlossen, ist er aber eigentlich gar nicht.“

Mein heimlicher Lehrplan dieses Ausflugs ist es nämlich, dass Herr Müller meine Klasse besser kennen lernt und die dann auch mehr mag und ihnen am Ende des Schuljahres dann mildere Zensuren gibt. Um 10.10 Uhr sind Elif, Esra und Ayla da und telefonieren wild mit ihren Handys rum. Es stellt sich raus, dass der Rest der Klasse in der ganzen Stadt in den öffentlichen Verkehrsmitteln verstreut ist.

Um halb elf sind wir endlich vollzählig und alle Schüler sind sich einig, dass wir uns nächstes Mal vor der Schule treffen sollen. „Sagt mal Leute, ihr seid teilweise schon 18. Ihr geht alle in die zehnte Klasse, habt Freundinnen oder Freunde, einige von euch hatten bestimmt schon Sex und ihr wollt mir erzählen, dass ihr es nicht schafft mit ein paar Bussen zu fahren?“

Später stellt sich raus, dass Emre, Bilal und Abdul noch bei Edeka waren und endlos lange Süßigkeiten gekauft haben. Jetzt trotten sie alle drei mit ihren Plastiktüten vor mir her. Ich habe ein Heidepark Deja-Vu, als ich Abdul mit der vollen Tüte sehe. Wir fahren noch mal alle zusammen mit einem Bus und ich mir sicher, dass die Schüler spätestens jetzt nicht mehr nach Hause finden würden, wenn ich mich jetzt verdrücken würde.

Und dann rein in die Natur. Wir latschen durch einen herrlichen Wald. Die Sonne scheint durch die Bäume und alle kreischen fröhlich vor sich hin. Wie eingesperrte Vögle, die man zum ersten Mal fliegen lässt verteilen sie sich auf dem Waldweg. Fahrradfahrer werden nicht gesehen, auch wenn sie von vorne kommen, jedes Auto hat Schwierigkeiten sich eine Schneise durch die Masche zu bahnen. Ständig halten sie an und fotografieren sich in unterschiedlichen Grüppchen. „Frau Freitag kommen Sie, sie sollen auch mit rauf.“ „Und jetzt bitte alle: KOKAIIIIN“ weißt Esra als Fotografin an. Sagt man nicht mehr Cheese?

Ich erzähle Interessantes und Uninteressantes aus meiner Jugend, Herr Müller debattiert mit Emre, Abdul und Bilal, warum man die Polizei braucht.

„Ohne Polizei könnten Frauen nachts nicht auf die Straße gehen.“ sagt er. Ich habe nachts selten einen Polizisten dabei, egal, Hauptsache sie lernen sich kennen. Die Mädchen und ich reden über die harten ersten Zeiten in der Siebten Klasse. Sie sind sehr reflektiert. Elif sagt zu Mariam: „Jaaaa Mari, du hast immer so viele Kraftausdrücke benutzt.“ Ab und zu bemerken sie auch die wilde Natur: „Frau Freitag, Frau Freitag kommen sie schnell hier sind zwei Wespen, die sich paaren.“

Wir picknicken auf einer Lichtung, Brötchen belegt mit Chips und Schokoladenkeksen, Herr Müller und ich wechseln uns beim Heimlich-Rauchen ab. Als ich an einem Klohaus sage, ich gehe mir mal kurz die Hände waschen ruft mir Esra hinterher: „Ja, ja, Frau Freitag, gehen Sie ruhig rauchen. Viel Spaß.“

Ich kann die Schüler erst um 15 Uhr dazu bewegen den Rückweg anzutreten. Alle sind ausgelassen fröhlich. Sie fangen wieder an von einer Klassenfahrt zu träumen. Im Bus wird gesungen, beim Abschied werde ich von allen Mädchen gedrückt, Herr Müller sagt: „Eine wirklich nette Klasse. Und Emre, er ist sehr in Ordnung.

Die Schüler sagen: „Herr Müller, er ist ein Freak, aber korrekt.“ Zu Hause gucke ich mir die Fotos und das kurze Video an und bekomme einen Anflug von Panik, bei dem Gedanken, dass ich meine Klasse nur noch ein Jahr habe.

Reifeleistung

So, wieder wach, sogar leicht überdreht – Kaffee um acht macht wach! Und was soll ich sagen… eigentlich läuft alles wie geschmiert. Wir rutschen ja schon langsam ins Tal der Herbstferien. Rechnet man mal den Wandertag, das Sportfest und meine Fortbildung ab, bleibt vielleicht noch eine handvoll Unterricht, bis ich mich in die Erholung schmeißen darf.

Meine Klasse wird irgendwie doch ein wenig erwachsen. Jedenfalls im direkten Vergleich zu den siebten Klassen. Heute hatte ich erst Englisch in einer recht munteren Siebten und dann meine Schnarchnasen.

Die Kleinen haben mir fast den letzten Nerv geraubt. Da hatte ich richtig zu ackern und war danach völlig fertig. Als die endlich weg waren,  schlenderten meine Lieben in den Raum und ich konnte erstmal gepflegt abjammern: „Ohhh Mann, diese Siebten… anstrengend.“

„Jaaa, voll krass“ sagt Peter und zeigt auf den Gang, in dem sich die die Siebten über den Boden prügeln, „sooo krass waren nicht mal wir.“ Ich schüttle nur den Kopf und zeige auf Ronnie. Peter grinst. Und still erinnern wir uns beide. Sie waren krass! VOLL KRASS!!! Und das nicht nur in der Siebten, auch in der Achten und eigentlich auch in der Neunten.

Und jetzt sind sie ruhig, entspannt, teilweise sind sie mir jetzt aber wieder zu ruhig. Richtige Alterserscheinungen zeigen die momentan. Bilal und Emre sind ständig müde und liegen meistens mit dem Kopf auf dem Tisch. Ronnie, der ständig an den Händen verletzt ist oder Kopfschmerzen hat,  erzählt mir, dass er einen Termin beim Rheumatologen hat. Marcellas Kratzer auf der Hornhaut könnte ja auch grauer Star(r) sein. (Frl. Krise – hier ein r wie in Popstar oder zwei – wie bei starren?)

Und Miriam, Ayla und Elif wechseln sich mit ihren Unpäßlichkeiten jeden Tag ab: Sie fühlte sich nicht wohl, sie hatte starke Kopfweh und Fieber, Bauch- Herz- oder Rückenschmerzen. Momentan frage ich mich echt,  ob meine Klasse dieses Schuljahr ÜBERLEBEN wird. Ich muss die armen Kleinen mehr schonen. Die gehen mir ja völlig kaputt.

Keiner von denen würde das harte Tanztraining in der Popstarvilla überleben. Die überstehen doch noch nicht mal das anstrengende Sportsachen anziehen, die scheitern doch schon am schwierigen Sportsachen MITBRINGEN.

Ach, aber sie sind schon echt süß, wie sie so leiden. Erwachsen werden tut echt weh. Mich schmerzt es beim Zugucken und ich möchte keine Minute mit ihnen tauschen. Und wie die wohl so werden, wenn sie keine Kinder mehr sind. Darf ich sie dann auch noch verarschen, so wie jetzt? Ich bin echt gespannt, was aus denen wird. Ich hoffe die besuchen mich dann mal im Klimakterium. Wenn sie nach dem Unterricht kommen…  in der Menopause habe ich bestimmt Zeit für sie.

Endlich die ersten Kratzer

So, nun ist es endlich passiert: In meiner Klasse gibt es den ersten Fall von Hornhautzerkratzung! Yeaaaahhh! Das muss sich jetzt nur noch rumsprechen.

Seit einigen Jahren – seitdem es wahrscheinlich bei Lidl, Aldi oder Kick gaaaaanz billig farbige Kontaktlinsen zu kaufen gibt, kommt mindestens einmal in der Woche ein Mädchen in meinen Raum, stellt sich vor mich, reißt die Augen auf und fragt: „Frau Freitag, was sagen sie? Sieht gut aus?“ Mal unter uns – es sah nie gut aus. Befremdlich. Zombiartig. Irgendwie alienesk. Diese bildhübschen dunklehaarigen, solariumgebräunten oder mit rotbraunem Make-up zugekleisterten Teenagerinnen stehen plötzlich da, mit cyanblauen oder hellgrünen Kontaktlinsen. Leider sieht es nie natürlich und deshalb nie gut aus. Wenn das anders wäre, wären die dunklen Haare und die blauen oder grünen Linsen wahrscheinlich apart oder sogar toll, aber so….

Kommt ein Mädchen mit diesen Dingern in die Schule, geht gleich der übliche Zirkus los: „Abooohhh, voll schööööön.“ Dann in der nächsten Stunde: „Kann ich auch mal?“ Und schon werden mit den dreckigen Fingern die Kontaktlinsen rausgenommen und in die noch gesunden Kinderaugen gesetzt. „Abooohhh, sieht bei dir auch voll schön aus!“

„Echt? Hast du Spiegel? Gib mal.“

„Ja, vallah, voll süß!“

Unterricht ist dann nicht mehr möglich, weil die spontane Bedürfnisbefriedigung im Vordergrund steht. Grundbedürfnis Nummer 1: Voll schööön aussehen. Kommt noch vor essen und trinken. Wie oft habe ich schon meinen Hügiäne-Vortrag gehalten: „Keime, Reinigungsflüssigkeit, Zerkratzen – ja sogar Ablösung der Hornhaut, Erblindung… BRILLE – ein Leben lang…“ Nützte alles nichts: „Abbohhh, voll schööönn darf ich auch mal?“

Und dabei weiß ich, wovon ich spreche. Jahrzehnte lang war ich zu eitel, eine Brille zu tragen und zu faul die Hügiänevorschriften für die Kontaktlinsdepflege zu befolgen.

„Die Reinigungsflüssigkeit in diesen Döschen jeden Tag wechseln…ach, was, die wollen doch nur viel davon verkaufen. Diese Krümmel, die da in dem Behälter rumschwimmen, die kann ich doch locker mit den Fingern rausholen.“

Ich habe mit den Linsen geschlafen, wenn ich zu müde war, die rauszunehmen, ich habe mal eine in der Disko verloren, auf dem Boden wiedergefunden (leider kaputt) und einfach wieder ins Auge getan – was soll sein…ich sehe doch sonst nichts.

Und dann kam der Schock: Ein fettes Geschwür auf der Hornhaut. Direkt über dem Sehnerv. Krankenhaus. Tägliches Tropfen, mehrere Tage ganz blind – weil sich das auf das gesunde Auge übertragen hat (Sympaticus?), und ständig der Chefarzt: „Klar können sie weiterhin Kontaktlinsen tragen… wenn sie auf ihr eines Auge verzichten können…“

Und seitdem darf ich nur noch Brille aufsetzen. Ist gar nicht so schlecht, weil man da morgens nicht die Augenringe sieht. Ziemlich nerviges Alterungsphänomen: Die morgentliche Entknitterung dauert sehr viel länger als früher.

Aber meine Schülerinnen, hat sie meine authentische, voll selbsterlebte Horrorkontaktlinsengeschichte beeindruckt? Natürlich nicht. „Ja, ja, lass die Alte mal quatschen, was weiß die schon… die mit ihrer doofen Brille… und wenn die die abnimmt sieht die sowieso aus wie ein Maulwurf. Ist doch gut, dass die die trägt. Was ist Geschwür überhaupt?“

Aber jetzt haben wir den ersten Hornhautzerkratzungsfall in der Klasse. Marcella, die soooo schöne Augen hat, von Geburt an, war heute und gestern nicht in der Schule. Ich rufe sie an.

Sie kleinlaut: „Ich habe Kratzer auf der Hornhaut.“

Ich denke: Yes! Endlich! Sage: „Ach du Arme. Von den Kontaklinsen?“ Ihr leises „ja“ höre ich kaum.

„Na, dann kuriere dich mal aus. Dann kannste ja auch nicht mit zum Wandertag. Wir sehen uns dann nächste Woche. Tschüüüüß.“

Manchmal kann das Leben echt den besten Unterricht machen.

Heute war nichts los

Heute lief alles problemlos. Total easy heute. An solchen Tagen fällt mir gar nichts ein, was ich schreiben könnte. Niemand fiel aus (also niemand wurde ausfallend). In meiner Klasse – heute Test – hat nur Marcella gefehlt. Sie haben gar nicht gemurrt über den Test. Ich hörte nicht einmal „Was Test? Wußtischnich!“ Einige Schüler haben sogar für den test gelernt. Alles schon verbessert (im Bus) und morgen bekommen sie den zurück.

Dann tausend nette Freistunden und ein sehr effektives Elterngespräch. Hierhin gegurkt, dorthin gegurkt, rauchen, essen, Kaffee und sogar noch geschafft Hautcreme zu kaufen. Dann Aufsicht auf dem Hof, alle Schüler nett. Keine Kämpfe, keine Streitereien, dann wieder Unterricht. Kunst supereasy. Alle arbeiten ich strukturiere meinen Schreibtisch und die Regale hinter meinem Schreibtisch neu.

Dann nach Hause, dann Sport mit Frau Dienstag. Die verspricht mir die Megastory über einen missglückten Hausbesuch. War gar nicht schlimm. Also auch keine Sache, über die ich hier schreiben könnte.

Jetzt kocht er freund Abendessen: Es gibt eine Bratwurst und Sauerkraut und dann Rach, die Restaurantschule und dann gibt es schlafen.

Ein total runder, normaler, recht unanstrengender Tag. Halt – Sport war megaanstrengend. Aber sonst… unterrichtet wie an Gymnasiumsschule. Und ich stelle fest, an Gymnasiumschule hätte ich wahrscheinlich einen ruhigen Alltag, aber wahrscheinlich auch keinen Blog.

Morgen bin ich wieder oft in meiner Klasse. Irgendwas wird da schon passieren. und sollte da wieder alles so soft ablaufen, dann werde ich die Schüler ein wenig provozieren: „Emre, sag‘ mal, bis du nun an Mädchen oder an Jungen interessiert?“ „Gibt es überhaupt homosexuelle Moslems?“ „Was haltet ihr von einem Kopftuchverbot in deutschland und dann der Knaller: „Hier guckt mal die Schlagzeile von gestern: „Der Eltern von schwänzern soll das Harz4 Geld gekürzt oder gestrichen werden, was sagt ihr denn dazu und könnt ihr Micha mal anrufen und ihm das erzählen, der schwänzt doch schon wieder, oder?.“

Handlungsorientierter Unterricht

Ausgeschlafen und frisch gebadet kann ich nun endlich, um halb vier am Samstag, mein Wochenende beginnen. Gestern war ich ja zu geschafft, von den vormittäglichen Erlebnissen, um sie hier abends noch mitzuteilen. Was war denn so Aufregendes passiert? Na, eigentlich nichts, aber es war auch kein Paradetag wie der von Frl. Krise gestern. Vor allem endete der Tag sehr stressig.

Ich unterrichte ja in der letzten Stunde der Woche eine sehr kleine siebte Klasse. In dieser Klasse befinden sich auch wieder der dicke Dirk und Dschinges. Aufmerksame Leser werden sich wundern: Die waren doch letztes Jahr schon in der Siebten. Ja. Aber es wird wohl niemanden wundern, dass sie das Klassenziel nicht erreicht haben. Nicht zuletzt meine schlechte Kunstnote war daran schuld, dass sie sitzen blieben. Und nun habe ich den Salat. Die alte 7b ohne den dicken Dirk und Dschinges, die jetzt die 8b ist, hat einen neuen Kunstlehrer und ich unterrichte die beiden wieder, nur halt in einer anderen Kasse. Oh grausamer Stundenplangott.

Ich will – soll mit ihnen eine Wand streichen. Wir haben keine Kittel und die Farbe geht nicht mehr aus den Klamotten raus. Spätestens bei dieser Information hätte Frl. Krise – die erfahrene Superlehrerin das Unternehmen – handlungsorientierter Kunstunterricht- gestoppt. Die dumme Frau Freitag dagegen rennt nichts ahnend in die bisher stressigste Stunde des neuen Schuljahres. Ich skizziere mal kurz den Ablauf.

Wir haben nur eine Rolle und zwei runtergewirtschaftete Pinsel. Der Raum in dem die Wand ist hat einen TEPPICH. Keiner will Abkleben: „Ist doch egal, machen Sie mal die Farbe auf, ich will umrühren!“ Zeitungen auslegen? Wozu denn? Also mach ich das. Die Farbe deckt nicht. Mit den blöden Pinseln macht es keinen Spaß und das Ergebnis sieht auch noch scheiße aus. Es wird sich um die Rolle geprügelt. Immer auf der Zeitung, die schon mit Farbe bekleckst ist. Die Aufmerksamkeit lässt nach: „Ich habe keine Lust mehr. Kann ich raus gehen? Ich gehe Cafeteria, ja?“

„Nein, du bleibst hier Dschinges, hier, sortiere mal die Bilder, die wir dann aufhängen wollen.“ Die Bilder werden über den Boden verteilt. Die anderen Schüler latschen darauf rum Dschinges erzählt vom Ficken. Er sei der große Mädchenaufreißer. „Wir machen das auch mit fünf Kumpels und einem Mädchen.“ Ich bin entsetzt und glaube ihm kein Wort. „Sie glauben nicht? Ich kann Ihnen Handyvideos zeigen.“

„Ach, du filmst dich noch dabei?“

„Nein, aber mein Kumpel filmt.“

Ich muss unbedingt mit der Erzieherin, der Klassenlehrerin und seinen Eltern sprechen. Aber nicht jetzt. Beim dicken Dirk geht die Farbe auf die Hose: „Scheiße, Frau Freitag, geht die wieder raus? War 80 Euro die Hose!“ „Ja ja, das geht wieder raus.“

Dann das Klingeln. Zack, und schon sind alle weg. Die Wand sieht so schlimm aus, dass ich der Klassenlehrerin einen Brief im Raum lasse, dass wir da noch mal rüber gehen müssen. Dann mache ich mich alleine ans Aufräumen. Es ist 14.30Uhr. Der Stuhl auf dem die Farbe stand ist total eingesaut. Den schleppe ich durch das Schulhaus zu einem Waschbecken. Dann die bekleckste Zeitung entsorgen und mich noch notdürftig säubern. Völlig verschwitzt schleiche ich irgendwann ins Wochenende zu Frl. Krise, die mir freudig von ihrem perfekten Tag erzählt. Ich fühle mich wie lebendig begraben.