„Manuel, wie kannst du denn Moslem sein, wenn dein Vater Deutscher ist?“ fragt Cigdem mitten in der Stunde. Ich unterrichte gerade Kunst in meiner Lieblingsklasse. Ich bilde mir ein es sei meine Lieblingsklasse, weil ich es sonst nicht aushalte. In der Gruppe sind nicht viele Schüler, weil jeder einzelne die Wirkung von 10 normalen Schülern hat. Dort habe ich auch wieder das Vergnügen, Dschinges und den dicken Dirk vor mir zu haben und neuerdings eben auch Cigdem. Sie war erst auf unserer Schule, dann war sie auf irgendsoeiner Maßnahmenspezialschule und jetzt ist sie wieder bei uns.
Das passiert oft. Wir sind eine Bumerang-Schule. Die Schüler gehen: „Wir ziehen nach München, Köln, Salzgitter, ich gehe in ein Schulschwänzerprojekt, ich habe Ausbildungsstelle, ich gehe auf eine andere Schule…“ Und meistens passiert gar nichts, oder sie sind irgendwann weg und dann plötzlich stehen sie wieder vor deiner Tür: „Ich bin wieder da. War scheiße in München. Obwohl es gab voll viel Arbeitsplätze. Sogar mein Bruder hätte dort arbeiten können, dabei hat er gar keinen Schulabschluss.“
„Dein Vater ist doch kein Moslem. Der ist doch Deutscher.“ Manuel hat noch nicht geantwortet. Er scheint nachzudenken. In seiner Klasse sind alle Moslem. Es täte ihm gut, auch einer zu sein. Alle starren ihn interessiert an und warten auf seine Antwort. Ich möchte ihm helfen: „Cigdem, man kann doch auch als Deutscher Moslem sein. Das ist doch eine Religion und keine Volksabstammung oder eine Nationalität.“ Manuel faselt etwas von Stiefvater. Er ist wahrscheinlich noch kein Moslem, sonst hätte er das sofort gesagt. Der Gruppendruck schlägt ja überall erbarmungslos zu. Ich versuche das Thema zu wechseln: „Man wird doch ganz leicht Moslem, man muss doch nur dreimal irgendwas sagen und dann ist man das. Man muss ja noch nicht mal Steuern zahlen.“ Ich denke an meine Kirchensteuer, die der evangelischen Gemeide jedes Jahr eine Skireise, ermöglicht.
„Ja, das Glaubensbekentniss.“ sagt Hassan.
„Cigdem, warum bist du eigentlich wieder hier? Du warst doch auf einer anderen Schule.“
„Da war’s scheiße. Ich bin geflogen.“
Irgendwie kommen wir von dem Religionsthema aber nicht weit weg. Cigdem erzählt, dass sie immer samstags und sonntags betet. Deshalb frage ich sie: „Bist du denn ein richtiger Moslem?“
„Ja, natürlich.“
„Hälst du dich denn an die Regeln?“
„Nein, tue ich nicht.“
„Kannst du denn ein Moslem sein, ohne dich an ganzen Regeln zu halten?“
Cigdem überlegt: „Das hat doch nichts damit zu tun. Ich glaube trotzdem an Gott.“
„Na, das will ich ja gar nicht bezweifeln, aber ich dachte immer man muss sich auch diese Regeln halten.“
„Wieso? Das macht kein Jugendlicher.“ Cigdem ist etwas empört „Niemand kann sich an die Regeln halten.“
Das sehen ihre Mitschüler aber anders: „Natürlich kann man das. Erwachsene, Hodschas, alte Leute…“
Sie überzeugen Cigdem nicht: „Meint ihr. Aber ich wette die Hodschas haben früher auch Hurensohn gesagt. Glaubst du nicht, Frau Freitag?“
„Cigdem, warum duzt du die Lehrer eigentlich immer?“ fragt Manuel. „Ja, Cigdem das machst du. und das sollte man nicht machen. Weißt du, das machen Kindergartenkinder. Du bist doch schon älter. Man denkt dann du wärst noch klein.“ erkläre ich, dabei weiß ich genau, dass sie das aus Respektlosigkeit und Povokation tut.
„Wieso, hab ich schon immer gemacht. In der anderen Schule hab‘ ich zu den Lehrern gesagt Hurensohn komm her und die haben nichts gemacht.“
„Naja, du bist ja von der Schule geflogen.“
„Ja aber, weil ich eine Lehrerin geschlagen habe und so mit der Schere auf sie zugegangen bin.“ Sie springt auf, nimmt eine Schere von meinem Schreibtisch und will die Szene nachspielen. Ich greife nach der Schere und sie setzt sich wieder hin.
Die ganze Stunde beobachte ich sie. Sie arbeitet gut, verbal ließe sich einiges verbessern, aber eigentlich ist sie recht zugänglich und friedlich. „Cigdem, kann ich dich mal was fragen?“
„Was denn, Frau Freitag?“
„Sind deine Eltern eigentlich stolz auf dich?“
Sie denkt kurz nach „Nein. Sind sie nicht.“
Dann klingelt es und wir wünschen uns gegenseitig ein schönes Wochenende.