Irgendwo hört’s ja wohl auf, oder?


Ich bin stinksauer.
Eigentlich hatte der Tag ganz gut angefangen – alle meine Facebookschüler waren pünktlich. Die Unerreichbaren kamen auch pünktlich (aber halt eine halbe Stunde später) und sieben Schüler kamen gar nicht. Ich versuchte sie anzurufen – schrieb ich ja schon gestern, dass das nicht so einfach ist. Eine Schwester schwor, dass Hanna vor einer halben Stunde das Haus verlassen hätte und gleich auftauchen müsste. Sie kam nie. Emre wurde von Abdul um 9 Uhr telefonisch geordert: „Frau Freitag, ich hatte ihn schon aufgewacht vorhin.“ Emre erschien dann völlig verpennt oder bekifft um 12 Uhr. Ohne alles. Ohne Bewerbung, Lebenslauf oder Stift.

Dann gabe es ja heute den ganzen Tag Bewerbungsgespräche und Einstellungstests und Feedbacks und Beratungen. Zwischendrin kamen die Schüler immer zu mir und berichteten:
„Hat voll Spaß gemacht. Die Frau war korrekt. War voll king.“
„Ich bin rausgekommen und hatte voll Lebensfreude.“
„Frau Freitag, was ist ein Schamör?“
„Ich schwöre ich habe perfekt deutsch gesprochen. Ich glaube ich habe sogar gesagt, ich habe mein Praktikum absolviert. So spreche sonst nie.“

Alles war richtig nett und gemütlich. Wir plaudern zwischen ihren Terminen und pflegen die Beziehungsebene. Esra und Elda wollen mich bequatschen wegen ihrer gefälschten Entschuldigungszettel. Der Elternsprechtag steht an und ihnen geht der Arsch auf Grundeis.

„Frau Freitag, bitte ich habe das doch nur einmal gemacht. Bitte sagen Sie das meiner Mutter nicht.“

„Elda, deine Mutter weiss doch davon. Ich habe es ihr doch schon gesagt.“

Was die Mutter nicht weiss ist, dass ich noch sieben andere Entschuldigungen habe, die garantiert auch gefälscht sind.

„Elda, warum soll ich denn deiner Mutter die anderen Entschuldigungen nicht zeigen? Du sagst doch selbst, dass du es nur einmal gemacht hast.“

„Habe ich ja auch nur einmal gemacht.“

„Na, dann ist doch kein Problem.“

Sie stammelt was davon, dass sie machmal für ihre Mutter unterschreiben musste, als sie krank war, weil ihre Mutter keine Zeit hatte und so… hmmmm, alles klar.
Wenn sie wenigstens einfach zugeben würde, dass sie alle gefälscht hat. Aber sie versucht sich immer noch rauszureden. Und eigentlich will sie noch ein Lob von mir, dass sie doch eine Entschuldigung abgegeben hätte, und nicht unentschuldigt gefehlt hat. Denn geschwänzt hätte sie ja nicht.

„Frau Freitag, wissen Sie eigentlich, was Eldas Mutter mit ihr macht, wenn Sie die anderen Zettel zeigen?“ fragt mich Esra mit theatralisch weit aufgerissenen Augen.
„Na gar nichts, Elda sagt doch, dass die alle ganz korrekt sind.“
„Sie schickt sie in die Türkei und dort wird sie verheiratet!!! Und dann sind Sie schuld! Und mein Vater bringt mich um!“
Noch dramatischer ging es wohl nicht, denke ich und versuche das Thema zu wechseln.
Ich bin mir noch gar nicht sicher, ob ich den Müttern das ganze Fälscherausmaß zeigen werde. Aber die Mädchen geben keine Ruhe: „Das hätte Sie bei Ronnie oder bei Peter nie gemacht. Ronnie fehlt so oft und nie rufen Sie da an.“
Ahhh, sie ziehen die „Sie sind rassistisch“-Karte. Jetzt mischt sich Elif ein: „Ähhh, Ronnie fehlt doch nie. Und Peter auch nicht.“
Als ich den Raum verlasse heften sie sich an meine Fersen. Eigentlich könnten sie nach Hause gehen, aber sie quaschten immer noch auf mich ein:
„Bitte, meine Mutter schickt mich Türkei.“
„Mein Vater tötet mich.“
„Ich verspreche, dass es nie wieder vorkommt. Frau Freitag, wir machen einen Vertrag. Es war doch auch nur das eine Mal…“

Mit einem: „Wie reden morgen darüber.“ lasse ich sie stehen und gehe in den Raum, in dem wir Lehrer ein Feedback über die Bewerbungsgespräche unserer Klassen bekommen. Wahrscheinlich werde ich mit den Müttern ausmachen, dass sie mich ab jetzt immer anrufen müssen, wenn ihre Töchter krank sind und nicht in die Schule kommen, denke ich. Die gefälschten Zettel werde ich ihnen nicht zeigen.

Meine Klasse hat sich recht wacker geschlagen und einen – mich – überraschenden guten Eindruck bei den Schulfremden hinterlassen.
Jeder Schüler wird einzeln besprochen. Als Elda an der Reihe ist berichtet der junge Mann begeistert, was für eine offene und nette Person sie sei. „Das einzige was ihr wirklich Probleme machen könnte sind die Fehlzeiten und die Verspätungen auf den Zeugnissen. Sie sagt, dass die Stunden alle entschuldigt waren, aber ihre Lehrerin die Entschuldigungszettel verschlampt hätte.“

„WIE BITTE??????“ Ich glaub‘ ich hör‘ nicht richtig. Na warte Fräulein, wir sprechen uns noch und deine Mutter spreche ich auch. Und die Türkei ist doch auch schön und einen Ausbildungsplatz bekommst du mit deinen Fehlzeiten ja sowieso nicht, warum dann nicht heiraten? Ich bin sooo sauer, ich habe mich noch immer nicht beruhigt!!!!

Warum machen Sie so?

„Frau Freitag, vielen Dank!!! Sie können sich gar nicht vorstellen, was wir gestern Abend für einen Ärger von unseren Eltern bekommen haben.“ Esra steht vor mir und bebt vor Wut. Ihre Augen sind schon ganz wässrig. Gleich fängt sie noch an zu heulen.

„Sie haben unser Leben ruiniert. Nur, weil wir Ihnen egal sind.“
„Esra, warte mal, gerade weil ihr mir NICHT egal seid, habe ich angerufen.“

Esra ist sauer. Elda auch. Sie wollen mir nicht mehr zuhören. Alle Erklärungsversuche laufen ins Leere.
„Wissen Sie was Eldas Mutter mit ihr gemacht hat? Das glauben Sie gar nicht. Warum haben Sie angerufen?“
„Esra, ich…“
„Sie hätten ihre Mutter mal sehen müssen!“
„Laß doch Frau Freitag mal ausreden.“ mischt sich Elif ein.
„Danke Elif, aber ich glaube das bringt jetzt gar nichts. Ich rede später mit denen.“

Was war passiert? Inspektöse Freitag war wieder aktiv. Gestern sehe ich in meinem Fach, dass Esra und Elda am Dienstag in der ersten Stunde gefehlt haben. In Geschichte wurde ein angekündigter Test geschrieben. Die Geschichtslehrerin wollte von mir wissen, wer unentschuldigt und wer entschuldigt gefehlt hat – wegen des Nachschreibens.

Esra und Elda kleben aneinander wie Pech und Schwefel. Wie Hundekot und Profilschuhsohle, wie Siamesische Zwillinge. Sie haben jeden Tag die gleichen Klamotten an – meistens Durchsichtiges im Animalprintlook. Zur Zeit viel schwarz und beige – Sandfarbe oder Kamel.

In den letzten Wochen fällt mir auf, dass die beiden oft in den ersten Stunden fehlen und dann immer gemeinsam. Von Elda bekomme ich dann ganz abstruse Zettel: Elda hatte in der ersten Stunde Bauch- Zahn- Kopfschmerzen. Ich habe mich jetzt schon des öfteren gefragt, weshalb diese Schmerzen dann verschwinden. Selten wache ich mit Bauchschmerzen auf und mein Kopf tut auch erst nach der Arbeit weh. Ich vermute seit langem, dass Elda die Entschuldigungen selbst unterschreibt. Die Unterschrift der Mutter wirkt recht kindlich.

Gestern bekomme ich jedenfalls in meiner Freistunde einen investigativen Anflug, schnappe mir die Türkischlehrerin und bitte sie bei Eldas Mutter anzurufen. Und zu fragen, ob ihre Tochter das Haus am Dienstag pünktlich verlassen hätte. Ich steh gespannt-gebannt neben dem Telefon und lausche dem: Üjfdhgierzthgvdhgi4güüüü öretmin jdkfhefhhüüüyrygüllim entschuldigungszettel düglqwetujpäfdsügljgimm.
Die Mutter fragt, ob Esra auch gefehlt hätte und bedankt sich, mit der Bitte immer gleich anzurufen, falls soetwas nochmal vorkommen würde. Dann telefoniere ich noch mit Esras Mutter. Auch sie hat ihre Tochter pünktlich aus dem Haus geschickt.

In der Pause laufen mir die ahnungslosen Elda und Ersa über den Weg. „Sagt mal ihr zwei Hübschen, wo wart ihr denn am Dienstag in Geschichte?“ Ich antizipiere schuldbewußtes Grinsen. Aber nichts da. Sebstgerecht gucken sie mich an und legen gleich los.
Esra sagt, dass sie beim Frauenarzt und Elda, dass sie mit Bauchschmerzen zu Hause saß. Erwartungsvoll gucken sie, ob ich das schlucke. Ich warte und dann kommt noch das i-Tüpfelchen auf ihrem Lügengebilde: „Hat Ihnen Herr Werner nicht die Entschuldigungen gegeben?“
Ich: „Nein, hat er nicht.“
Gemeinsam blöken sie nun los: „Oh Mann, was können wir dafür, dass er das nicht macht?“

Und jetzt reicht es mir: „Okay Schluss jetzt. Ich habe eben mit euren Müttern telefoniert. Es reicht. Lügt mich nicht weiter an.“
Jetzt gucken sie blöd aus der Wäsche, aber nur für ein paar Sekunden. „Frau Freitag, wir sagen jetzt wie es wirklich war. Wir sind pünktlich los und der Bus hatte Verspätung und dann sind wir zu spät gekommen und dann dachten wir, dass wir dann lieber eine Entschuldigung bringen, weil wir ja sonst eine Fehlstunde haben.“
„Ja, und die habt ihr jetzt auch.“ sage ich, drehe mich um und gehe.

Beim Rauchen erzählt mir ein Kollege, wie sie sich in seiner Stunde lautstark über die Scheiß Frau Freitag aufgeregt haben. Ich denke zufrieden – na, da habe ich ja wohl alles richtig gemacht. Oder?
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