Krankenkasse versus Mandela

„War der nicht Sänger?“
„Nein, Nelson Mandela war kein Sänger! Ich habe euch doch jetzt schon 100 Mal erklärt, wer Nelson Mandela war.“
Sie raffen es immer noch nicht. Vincent denkt ich lüge ihn an und die anderen trauen meinen Worten auch nicht. Dabei haben wir jetzt sogar den Text über Robben Island und das Gefängnis („Ahhhhh, prison! Prison break! Gefängnis!“) gelesen.

Meine Schüler haben oft sooo dermaßen keinen blassen Schimmer von der Welt. Und dann höre ich heute morgen im Frühstücksfernsehen, dass irgendeine Schülerin einen Twittertext (sorry ich kann nicht Tweed schreiben – das Wort ist so ekelhaft) in die Welt geschickt hat, in dem sie sich wohl darüber beschwerte, dass sie in vier Sprachen Gedichtanalysen machen kann, aber nicht weiß, wie man einen Vertrag mit der Krankenkasse macht oder die Miete zahlt oder sonst was Profanes. Daraufhin wurde dann gleich ein „Spezialist“ befragt. Ausgerechnet der Quereinsteiger/Ersatz-Aushilfslehrer, der jetzt gar keiner mehr ist, sich aber immer noch in der Rolle des Bildungsexperten gefällt. Kam allerdings auch nichts Vernünftiges raus – also aus der Befragung.

Nein, man lernt in der Schule nicht, wie man sich bei der Krankenkasse anmeldet. Habe ich auch nicht gelernt und trotzdem bin ich krankenversichert. Ich habe sehr viele Dinge, die ich heute kann, nicht in der Schule gelernt. So what? Man hört doch nach dem Schulbesuch nicht auf zu lernen. Und ich bin mir sicher, dass das Mädchen mit den Gedichtinterpretationen all die Alltagsdinge meistern wird, wenn sie muss.

Die Konsequenz wäre ja, dass wir den Schülern nur beibringen, wie sie HartzIV-Anträge ausfüllen oder Überweisungen schreiben (das lernt man übrigens in der Schule.). Und dann können sie das, aber wissen nicht, wer Nelson Mandela ist. Das möchte ich nicht! Wir haben im Unterricht sowieso so wenig Zeit und es gibt noch so viel, was ich denen beibringen möchte.

Ich höre schon einige sagen, dass es doch egal ist, ob sie Mandela kennen oder nicht. NEIN! Das ist nicht egal! Und ich möchte auch, dass sie wissen, dass es die Berliner Mauer gab und warum die Weltkriege stattgefunden haben und wo Amerika liegt und wie man schwanger wird und wie man nicht schwanger wird und was der Staat mit den Steuern macht und wer überhaupt der Staat ist.

Und wenn sie das mit der Krankenkasse später nicht können, dann dürfen sie gerne mal vorbeikommen und ich helfe ihnen dabei. Aber sie sollen auf keinen Fall denken, der tolle Song im Radio ist von Nelson Mandela.

Allgemein

27 Gedanken zu “Krankenkasse versus Mandela

  1. Danke! Das hab ich auch gedacht – die ist doch erst 17! Und weiß noch nicht mal, dass es Gedichtinterpretation heißt und nicht GedichtSanalysen. Und ist sicherlich von irgendwelchen Schergen gezwungen worden, drei Fremdsprachen zu belegen. Abgesehen davon ist das Thema „Steuern“ in meiner Schulbildung durchaus zur Sprache gekommen, jedenfalls was das ist, wofür sie da sind, und was es in der Vergangenheit darum für TamTam gegeben hat. Gibt es nicht auch noch sowas wie Eltern, die einem dies und das evtl. beibringen könnten? Wenn sie das Abitur unnütz findet, dann soll sie doch darauf verzichten! Schulpflicht ist doch vorbei für sie. *meckernd ab*

    • steuern sind bei mir immer thema. erinnerst du dich wo man diesen twittertext finden kann und was sie alles nicht in der schule lernt? und eltern….jaaaa, die können ja auch mal was beibringen.

      • Nee, ich bin nicht bei Twitter. Habs in den „Nachrichten“ gesehen: „Jetzt bin ich fast volljährig und habe keine Ahnung von Steuern, Versicherungen, Miete. Aber ich kann eine Gedichtsanalyse schreiben. In 4 Sprachen.“

      • Bin gerade auf Umwegen auf diesen Blog-Post gestoßen. Hier die beiden Tweets der Schülerin:

        Und jetzt nutze ich mal ganz dreist diese Gelegenheit, auf meinen Blog-Post hinzuweisen, in dem ich über dieses Thema geschrieben habe: https://outtheblueblog.wordpress.com/2015/01/15/uberleben-im-alltag-als-schulfach/

        LG 🙂

  2. Du erklärst echt im Unterricht was der Staat mit den Steuern macht? Ganz ehrlich, dass würde ich auch mal gern lernen.
    Erklärst du auch warum manche Dinge mit den Steuergeldern gemacht werden, z.B warum die Nazis in Kiew schon 1 Milliarde von D geschenkt bekamen?

  3. Hallo Frau Freitag,

    habe gerade Ihren Blog-Post auf unserer Facebook-Seite verwertet und verlinkt:
    https://www.facebook.com/persenverlag

    Vielen Dank und viele Grüße,

    Daniel Völzow
    Marketing
    AOL-Verlag/Persen Verlag

    AAP Lehrerfachverlage GmbH
    Veritaskai 3, 21079 Hamburg
    Tel.: 040.325083 -029
    Fax: 040.325083 -050
    http://www.aap-lehrerfachverlage.de
    d.voelzow@lehrerfachverlage.de
    __________________________________
    Amtsgericht Hamburg HRB/126335
    Geschäftsführung: Christian Glaser

  4. Wenn sie eine Gedichtinterpretation kann, wird sie das auch mit einem Mietvertrag hinkriegen, der ist nicht mal gereimt. Lesen kann sie ja. Da bin ich ganz zuversichtlich.

  5. Die Schülerin scheint ja bei sehr vielen Altersgenossen einen Nerv getroffen zu haben. Das sollte auf jeden Fall ernst genommen werden, ganz egal wie alt sie ist! Ich selbst habe vor zwei Jahren Abi gemacht und in meiner Schulzeit waren Steuern oder das Ausfüllen von Überweisungen nie, nie, nie Thema. Nelson Mandela übrigens auch nicht.
    Abitur ist heutzutage nunmal für jede Menge Berufe erforderlich, ich würde sagen, dass man zu einem bestimmten Grad schon dazu gezwungen wird. Dann kommt man mit 18,19 aus der Schule und merkt, dass man nur minimal aufs Studium oder Berufsleben vorbereitet wurde. Die Prioritäten der Lehrpläne liegen (zumindest in NRW) leider an vielen Stellen falsch und da ist Kritik von Seiten der Schüler doch wichtig und sollte nicht als unqualifiziert o.ä. abgetan werden!
    Es ist natürlich super wenn es Lehrer oder Eltern gibt, die gewisse Lücken füllen, das Glück hat aber leider nicht jedes Kind.
    LG, Melli

    • Ausfüllen von Überweisungen: Ich bin in einem Alter, in dem ich tatsächlich noch das Ausfüllen von Überweisungen selbt durchführen (und das selbst erlernen!) musste: Auf Paper mit Durchschlag und persönlich in der Sparkasse abzugeben! Heutzutage erledige ich schon lange sämtliche Überweisungen online. Seltsamerweise hat mir das niemand in der Schule beigebracht, weil es sowas damals noch nicht gab. Trotzdem klappt es tatsächlich immer!

  6. „Erklärst du auch warum manche Dinge mit den Steuergeldern gemacht werden, z.B warum die Nazis in Kiew schon 1 Milliarde von D geschenkt bekamen?“

    LOL, sie ist ja auch keine Lehrerin für Politik! Zumal ich dazu sagen muss, habe gehört dass vor einigen Wochen so ein ….. Lehrer seinen Schülernan meiner alten Schule im Soziakunde Unterricht ernsthaft erklärt hat, es sei gut und richtig dass Deutschland an Griechenland über 100 Mrd Euro gezahlt hat!

    Frau Freitag, darf der sowas sagen, ist das nicht politisch? Muss ein Lehrer nicht immer neutral bleiben???

    Und ich finds gut dass SIe den Kids mit Mandela und USA und Steuern kommen, es ist erschreckend wie wenig die Menschen auch noch mit 40 über diese Dinge wissen!!!

  7. Nicht traurig sein! Wahrscheinlich handelt es sich lediglich um phonologisch-orthografische Probleme…
    Culcha Candela macht ja nun auch wirklich bewegende Texte!

  8. Also, meine Schüler wurden immer mit solchen praktischen Sachen bombardiert! Krankenkassenzeugs, Überweisung ausfüllen, Verträge lesen und so. Interessiert hat’s keinen.
    Na ja, die waren aber auch nicht Gymnasium.

  9. Ja, es würde sicher zu weit gehen, den alltäglichen Bürokratiewahnsinn in der Schule zu lehren. Aber in manchen Fächern wäre ein Aktualisieren der Lehrpläne sicher angebracht.Zum Beispiel haben wir in Geschichte mehr als ausführlich über die Katharer-Kriege oder die der Phönizier gelernt. Mir ist schon klar, das das natürlich auch wichtig ist, um zu begreifen, wie es zu den kulturellen und religiösen Unterschieden kam. Allerdings frage ich mich schon, ob man es denn so im Detail durchnehmen muss. Denn für das 20. Jahrhundert blieb dann keine Zeit mehr. Und das ist doch wohl dann doch wichtiger als die einzelnen Krieger der Phönizier.
    Und auch in Geographie und Wirtschaftskunde stellt sich die Frage, ob man denn wirklich alle kleinen Länder Afrikas inklusive Hauptstadt auswendig lernen sollte oder ob es nicht doch wichtiger wäre, zu erfahren, wie das Steuersystem, ein Kredit oder ein Unternehmen funktioniert. Ich kann mich erinnern, dass wir das angeschnitten haben, aber auch da blieb dann wieder nicht genug Zeit, weil der Lehrplan ja auch vorsieht, dass man alle Gebirge und Flüsse Europas kennen muss. Mein Sohn hat in GW wiederum gar nichts von Wirtschaft gelernt. Dabei merke ich sehr wohl, wie interessiert meine Kinder an so alltags relevanten Themen wären. Aber leider ist das Schulsystem dermaßen unflexibel, dass manches erst in den Lehrplan aufgenommen wird, wenn es womöglich schon wieder wiederlegt wurde.

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