Der Sohn Gottes

„Aber, Frau Freitag, jetzt sagen Sie mir mal das hier! Wenn Jesus der Sohn von Gott ist, dann ist er doch auch ein Gott und es gibt doch nur einen Gott.“, fragt mich Erdem.
Wir befinden uns mal wieder in einem dieser intereligösen Workshops, die man unseren Klassen imme überhilft. Irgendwie geht man wohl davon aus, dass unsere Schüler besonders religiös sind. Ich kann mich nicht daran erinnern in meiner eigenen Schulzeit derartig oft mit Religion konfrontiert geworden zu sein. Abgesehen von Reli in der Grundschule wo ich die Arche Noah und immer wieder Engel in ein Heft gezeichnet habe.
Die Arche Noah kam heute gar nicht vor. Heute ging es um den Islam. Außer mir und Eugen sind in meiner Klasse fast nur Muslime. Wie religiös die wirklich sind, weiß ich gar nicht. Okay, Erdem läßt keine Gelegenheit aus, uns mitzuteilen, was für ein Supermoslem er ist. Wir warten auf die U-Bahn, um in eine Moschee zu fahren.
„Dann ist doch Jesus also auch ein Gott.“
„Erdem, wenn dein Vater Zahnarzt ist, bist du dann auch Zahnarzt?“ Erdem überlegt. „Dann bist du doch auch nur der Sohn vom Zahnarzt. Und Jesus war eben auch nur der Sohn von Gott. Ich nehme mal an, dass sich Gottsein nicht vererbt. Aber sicher bin ich mir da nicht.“ Für mich ist das Thema damit erledigt und ich wende mich wieder Furkan und Emre zu, die viel zu dicht an der Bahnsteigkante stehen. Erdem ist noch nicht überzeugt.
„Aber Jesus ist doch ein Mensch. Wie kann denn der Sohn von Gott ein Mensch sein?“ Wenn ich ihn jetzt nicht stoppe, dann muss ich noch erklären, wie die Jungfrau Maria ein Kind bekommen konnte. „Erdem, bei religiösen Dingen kannst du mir doch nicht mit Logik kommen. Guck mal, im Islam gibt es doch so ein fliegendes Pferd.“ Das weiß ich, weil das Pferd wohl Burak hieß und mir irgendein Burak die Geschichte mal erzählt hat. „Also ein Pferd kann doch auch nicht fliegen.“
„Na ja…“, sagt Erdem.
„Nein! Fliegende Pferde gibt es nicht!“
„Doch damals schon.“
Die U-Bahn kommt. Ich will nach Hause. Aber jetzt muss ich erst noch in eine Moschee und morgen in eine Kirche, übermorgen ins jüdische Museum. Und Kermit singt: „Welches Ding ist an-handers? Welches könnte es sein?“
Den ganzen Tag Religion. Man muss das und darf das nicht und die machen so und die anderen so, aber eigentlich ist das das Gleiche und das heißt wieder nur anders und so weiter. Und dann wieder: „Was fällt euch ein zu bla, bla bla und Moderationskarten und Eddings und Karten auf denen Sachen stehen. Kreuz und Engel und Gott und Frieden und Fasten und Davidstern und Kirche. Judenmütze wird nicht aufgeschrieben, weil dann doch jemand weiß, dass die Kippah heißt.
Ich döse weg. Zwangsläufig kommt dann die Diskussion, ob nur die Mädchen vor der Ehe keinen Sex haben dürfen und wieder wissen nur die Mädchen, dass das eigentlich auch für die Jungs gilt. Die Jungs grinsen und sagen: „Ja, aber Gott sieht nicht!“ Dann hören wir, dass alles was Frauen im Islam verboten ist auch Männern verboten ist und alles was Frauen dürfen Männer auch dürfen. Ich wache wieder auf. Denke: Aha. Das hatte ich immer ganz anders auf dem Zettel.
Vor mir sitzt Amina. Amina meldet sich. „Aber wenn das stimmt mit Männern und Frauen und das die alles gleich dürfen, warum darf dann ein Mann vier Frauen heiraten und ich nicht vier Männer?“ Ich flüstere: „Das wäre voll anstrengend. Vier Männer. Das willst du gar nicht.“ Dann bin ich ruhig, denn die Antwort interessiert mich auch. Als Antwort gibt es eine Erklärung, wie es dazu kam, dass Männer mehrere Frauen heiraten dürfen. Als wäre die offensichtliche Ungleichheit an dieser Stelle mit: und wenn Krieg war und damit die Kinder dann keine Waisen werden und sowas erklärt.
Aygül hat auch noch eine Frage: „Warum dürfen Jungs eine Christin oder eine Jüdin heiraten, aber ich darf nur einen Moslem heiraten.“ Ich liebe meine Mädchen. Weiter so! Laßt euch nicht mit diesen duseligen Erklärungen abspeisen. Ihr habt die Arschkarte! Das wisst ihr und das könnt ihr ruhig sagen. Aber alle ihre Fragen werden wegerklärt.
Machen eigentlich alle Schulen diese interreligiösen Workshops? Warum machen wir nicht was zu Transgender? Jeder kann sein, wer und was er will. Religion ist so yesterday. Können wir nicht über Mode reden oder Computerspiele oder Ufo361? Oder ob das VW-Zeichen wirklich ein Hakenkreuz wird, wenn man es ganz schnell dreht.
Drei Tage nur Religion geht mir an die Nieren. Kein Sex vor der Ehe, tzzzzz. Ich bin 50 und nicht verheiratet. Meine erstes Horrorfilmerlebnis hatte ich in der Kirche bei Pfarrer Badoreck. Ein Film über Jesus und der Schocker war, als er zu den Leprakranken geht und die immer unrein, unrein rufen. Und meine Oma hatte im Schlafzimmer ein Bild von Jesus ohne Hals, aber mit sehr langen Haaren – Jesus halt – und der hat mir immer hinterher geguckt. Egal wo ich stand. Der glotzte mich immer direkt an. Auch sehr gruselig.
Nee, nee Religion heb ich mir fürs Alter auf. So kurz vorm Ende – da kann man dann ja nochmal religiös werden. Aber dann werde ich katholisch. Da kann man ja schnell nochmal für alles beichten. Man weiß ja nie. Am Ende ist da doch was dran, an Himmel und Hölle. Vielleicht steht ja im Koran auch, dass Frauen und Männer immer das gleiche tun dürfen und vielleicht gibt es ja auch fliegende Pferde.

Teenager in der U-Bahn

Teenager in der U-Bahn nerven. Ich war selbst jahrelang ein nervender Teenager in der U-Bahn. Der Teenager an sich ist ein Rudelwesen und das Rudel braucht immer Action. Action ist, wenn alle aus der Gruppe zu laut sprechen und dauernd lachen.
Als ich Teenager war, konnte man sich ja nicht mit dem Smartphone ablenken. Wir hatten unsere analogen U-Bahnspiele. Zum Beispiel: „Wer schafft auf dem Bahnsteig der Pulitzer Straße am meisten Wagen?“ An der Station Pulitzerstraße (heute Westhafen) stieg nie jemand aus, deshalb konnte man sich beim „an der U-Bahn entlang nach hinten rennen“ voll in Szene setzen. Und natürlich war es peeeeeiiiiinlich. Alles was peinlich war, steigerte unser Gegacker. Pulitzerstraße den Wagen wechseln war unser Adrenalinkick. Ich verstehe gar nicht, weshalb dieses Megaspiel nicht überlebt hat.

Fast genausogut allerdings: Im Wagon nerven. Das war leicht. Man musste dazu nur die Füße auf die gegenüberliegende Sitzbank legen oder besser noch mit den Sohlen an das Polster. Schon gab es Mitspielerinnen en masse. Alte Frauen. In den Achziger Jahren war Berlin voll mit alten Frauen. Alte Männner gab es kaum. Kaum sahen sie unsere Füße auf den Bänken, ging es los: „Unverschämte Gören!“ „Das hätte es früher nicht gegeben!“ und unser Highlight: „Adolf hätte euch ins Arbeitslager gesteckt!“ Adolf! Ich erinnere mich an den wohligen Schauer, der einen überkam, wenn diese alten Naziwitwen nicht mehr an sich halten konnten. So vertraut mit ihrem Führer, dass sie ihn liebevoll Adolf nannten. Adolf, der Führer, Arbeitslager! Geschichte hautnah, einfach so gratis in der U-Bahn. Diese alten Schachteln meckerten und wir kicherten. So hatte jeder was davon. Action für alle.

Trotzdem fragte ich mich damals, warum diese Omas so vergrätzt waren. Nie hätte ich mir vorstellen können, dass ich auch so werde. Und jetzt? Ich kann es nicht anders sagen, aber ich sehe bei mir erste Tendenzen auch eine alte zeternde Nazioma zu werden.

Noch spielt sich meine Empörtheit lediglich in mir drinnen ab. Noch habe ich mich unter Kontrolle. Aber immer häufiger ertappe ich mich, wie ich: „Das gibt’s ja wohl nicht!“ denke. Oder leise „Na, war ja klar jewesen.“ flüstere.

Aquagymnastik. Im Wasser sind zwei Teenagerinnen. Sie haben noch gar nichts gemacht, sind einfach nur da und ich denke: Pfffff. Mist. Auch das noch.
Wenn sie dann anfangen rumzuplanschen und zu gackern, so wie es ein anständiger Teenager halt macht, dann brodelt es in mir: Wehe, die spritzen hier mit Wasser! Wehe meine Haare werden nass! Und natürlich nehmen sie sich jedes Wasserspielzeug mit ins Becken und weil sich so ein Teenager ja nicht lange konzentrieren kann landet alles nach kürzester Zeit wieder am Beckenrand. Und ab da kann ich nicht mehr. Ich kann mich auf nichts mehr konzentrieren. Frau Dienstag erzählt mir von ihrem Wochende, Frl. Krise stellt tiefschürfende philosophische Theorien auf, aber in meinem Kopf gibt es nur einen Satz: „Die werden die Sachen nicht wegräumen! Darauf wette ich! Die lassen einfach alles liegen!“ Ich kann es gar nicht erwarten, dass sie gehen, nur damit ich sehe, dass sie DIE SACHEN NATÜRLICH NICHT WEGRÄUMEN!

Jetzt frage ich mich: Was ist mit mir los? Warum bin ich so? Warum ist es mir nicht egal, ob sie die Nudeln und die Hanteln wieder ins Regal legen? Vielleicht, weil ich nicht will, dass die Frauen vom Fitnessclub denken, dass WIR das waren?

Der Freund sagt, dass sei berufsbedingt. Dass ich immer will, dass alles seine Ordnung hat. Aber ich fürchte, das ist es nicht. Ich glaube es ist der Lauf der Dinge. Das Alter. Ich werde langsam zu einer alten vergrätzten zeternden Schrulle. Es dauert bestimmt nicht mehr lange, bis ich meinen inneren Ärger verbalisiere. Aber was sag ich dann? „Arbeitslager? Adolf?“ Ich weiß ja nicht mal, ob Hitler einen für Badespielzeug-am Beckenrand-liegen-lassen irgendwohin geschickt hätte. „Unter Helmut Schmidt hätte es das nicht gegeben?“ „Jugend von heute?“ „Nach mir die Sintflut?“

Und das Schlimmste ist ja, wenn ich diese Mädchen wäre, dann würde ich mein Zeug auch nicht wegräumen, weil ich wahrscheinlich gar nicht darauf kommen würde, dass das irgendjemanden stört.

Optisanierung

Wenn du auf die Fünfzig zugehst, dann heißt Selbstoptimierung was anderes, als wenn man gerade Dreißig geworden ist. Als junger Mensch optimiert man an sich rum, so wie man ein neues Haus baut: Alles nur vom Feinsten. Alles neu! Alles ist schon super und soll noch toller werden. Ich glaub ich nehme doch den teureren Boden fürs Bad. Ach was sollst, die Küchenplatte soll ja ein Leben lang halten. Kann also ruhig was kosten. Fenster? Natürlich die Besten!

In meinem Alter optimiert man anders. Da saniert und repariert man eher. Schnell zur Zahnprofilaxe, bevor das Zahnfleisch ganz weg ist. Aquagymnastik nicht um geiler auszusehen, sondern, weil die Rückenschmerzen sonst gar nicht zu ertragen sind. Und überhaupt. Bikinifigur? Ich ziehe seit Jahrzehnten nur noch Badeanzüge an und das eigentlich sogar sehr ungern. Bin kurz vor dem Burkini.
Schuhkauf – lieber flachere Absätze wegen der Knieprobleme. Winterjacke – warm! Hauptsache sehr warm! Und Brille? Natürlich Brille!

Ich trage eine Brille, seit mir der Augenarzt im Krankenhaus sagte: „Klar dürfen Sie Kontaktlinsen tragen, wenn sie auf ein Auge verzichten können.“ Kann ich nicht, deshalb für mich nur noch Brille. Aber irgendwann werden die Augen ja im Nahbereich besser. Eigentlich wird wohl nur der Augenmuskel schwächer, aber plötzlich kann man wieder ohne Brille lesen. Anfangs dachte ich: Super. Endlich mal was, was sich von selbst mit dem Alter optimiert. Da gibt es ja nicht so viel, außer vielleicht das Gehalt.

Aber ohne Brille lesen können, heißt eigentlich nichts anderes, als mit Brille nicht mehr lesen zu können. Und das kann man ganz klar wieder als Defizit auslegen. Die Altersweitsichtigkeit – da ham wir es ja wieder. Kling ja wohl nicht gut: Altersweitsichtigkeit – ist vor allem für Lehrerinnen schlecht.

Als Lehrerin eine Brille tragen ist gut. Ich würde jedem Berufsanfänger dazu raten. Gibt ja auch Fakebrillen mit Fensterglas. Brille macht einfach schlauer und gehört, genauso wie das Schlüsselbund, zu jedem erstzunehmenden Pädagogen. So eine Art Dienstaccessoire. Die Brille schafft Distanz und wenn die Schüler sich an die Lehrkraft mit Brille gewöhnt haben, gibt es sowieso kein zurück mehr, denn dann lachen sie, wenn du die Brille abnimmst:

„Ha, sie sehen aus wie ein Maulwurf.“
„Oha, Sie haben voll Augenringe“
„Bitte setzen Sie die Brille schnell wieder auf!“

Brille ist also ein Muss. Aber dann kommt die Altersweitsichtigkeit. Und die kommt ab Mitte Vierzig! Bei JEDEM! Und plötzlich kann man die Schülerlisten nicht mehr lesen? Was macht man? Mehrere Möglichkeiten:

1. Man schiebt die Brille lässig auf den Kopf. So wie man das als Zwanzigjährige mit der Sonnenbrille getan hat. Aber da war man halt auch noch Zwanzig. Jetzt ist man Mitte Vierzig, gestresst, unausgeschlafen und die angeschwollenen Augen schwellen, wenn überhaupt erst nach der Mittagspause ab. Oder:

2. Man schiebt die Brille auf der Nase etwas nach unten, senkt dazu den Kopf und guckt über die Brille auf die Schülerliste. Ich weiß nicht warum, aber dabei reißt man außerdem automatisch die Augen weit auf. Während man das macht, fühlt man sich wie seine eigene Oma, die versucht eine Geburtstagskarte zu lesen. Und man sieht auch so aus. Und schließlich gibt es noch die Variante:

3. Unter der Brille durchgucken und dabei den Kopf heben. Auch nicht optimal.

Es gäbe noch die Möglichkeit sich eine Lesebrille vor die normale Brille zu setzen. Das würde ich aber höchstens für zu Hause empfehlen und auch dann nur, wenn man schon Jahre mit dem gleichen Partner zugange ist. Vor der Klasse taugt die zwei Brillenvariante überhaupt nicht.

Und ihr eitlen Kontaktlinsenträger… macht euch mal keine Hoffnungen… auch ihr werdet in die Altersweitsichtigkeit kommen und da könnt ihr euch dann zwischen Lesebrille und gar nichts Schriftliches mehr lesen können entscheiden.

Oder ihr macht das so wie ich und geht gleich zum Optiker und verlagt: einmal Gleitsicht bitte! Gleitsicht fetzt und ist jeden Cent, den sie kostet – und sie kostet- wert.

Lange Rede – hier der Sinn: Ich nutze also diese Ferien zur Selbstoptisanierung und besorge mir eine neue Brille. Mir kommt es so vor, als ob ich mit meiner (Gleitsicht)brille nicht mehr so gut lesen kann. Der eigentliche Grund allerdings: Frau Dienstag hat auch eine neue Brille.
Zur Kaufberatung nehme ich natürlich den Freund mit. Der Freund braucht keine Brille aber er ist stilsicher und er muss die Brille – im Gegensatz zu mir- ja immerzu sehen.

„Ich brauche eine neue Brille!“ sage ich und gehe sofort zum ersten Regal. Ein Vorteil des Alters: Ich halte mich nicht mehr mit unwichtigem Blah Blah auf. Ich gehe in einen Laden rein, druckse nicht lange rum. Ich sage was ich will und fange an zu suchen. Keine Verkäuferin kann sich über mich stülpen und mir Produkte andrehen, die ich nicht will. Soweit kommt es noch. Ich hab doch den Freund mit. Der ist meine Fachberatung. Ich probiere also alle Brillen in dem Laden auf und die, bei denen der Freund nicht sofort den Kopf schüttelt, die werden zur Seite gelegt. Und der Laden ist groß. Ich brauche mir die Billen auf meiner Nase gar nicht anzugucken, weil der Freund schon wissen wird, was gut aussieht und was nicht. Würde auch zu lange dauern, wenn ich jedes Mal in den Spiegel gucken müßte. Am Ende kommen ungefähr 20 Brillen in den Recall. Das wird eine ziemliche Arbeit, die alle wieder zurückzulegen. Na, eins ist klar, ich werde das nicht machen. Wie denn auch? Ich weiß ja nicht, wo die hin sollen.

Die engere Auswahl treffen wir im Sitzen und jetzt ist auch eine Fachverkäuferin an unserer Seite. Sie trägt zum Glück auch Brille. Vielleicht ein Muss, um hier zu arbeiten. Und wenn sie in Wirklichkeit keine braucht, dann kann sie sich ja trotzdem einfach jeden Tag irgendeine aus dem Laden aufsetzen. Optiker Dienstaccessoire. Ich probiere nacheinander jede einzelne Brille.

„Nimm mal die andere … Jetzt nochmal die …. Die kann weg!“
Der Freund und die Verkäuferin sind ein gutes Team. Wieder muss ich kaum in den Spiegel gucken.

„Setzten Sie nochmal ihre alte Brille auf!“ sagt die Verkäuferin. Sie mustert mich eine Weile und stellt dann fest: „Die ist etwas streng!“ Und plötzlich erinnere ich mich, nach welchen Kriterien ich früher jede meiner Brillen ausgesucht habe: „Die muss streng wirken! Die muss den Schülern Angst machen! Die Brille soll meine Autorität optimieren.“ Aber jetzt… jetzt mit fast Fünfzig sage ich: „Ich brauche eine Brille mit der ich freundlich aussehe!“ Mein Gesicht sieht schon so streng aus. Alles hängt und schlafft so rum, wie bei einer nörgelnden alten Kriegswitwe, die Kinder in der U-Bahn zurechtweist.

„Ich muss lieb und nett aussehen mit der Brille.“ Genial! Plötzlich wird mir klar, dass ich jetzt die Chance habe mein Standing in meiner Klasse um 180 Grad zu drehen. Das Verhältnis zu denen optimal zu optimieren. Mit dem Kauf einer freundlichen Brille werde ich ab nächster Woche die liebe Frau Freitag sein und dann ist die Klasse auch nicht mehr so garstig zu mir, wenn sie mich sieht. Dann werden ihre kleinen Teenagergesichter strahlen, wenn die freundlich aussehende Klassenmutti den Raum betritt. Super.

„Die ist gut! Die gibt Ihrem Gesicht einen sehr freundlichen Ausdruck!“ sagt die Verkäuferin plötzlich und der Freund nickt. Ich gucke in den Spiegel und muss lächeln. Diese freundliche Brille zwingt mich zu lächeln. Ich setze eine andere auf. Nichts. Dann wieder das freundliche Gestell und zack: breites Grinsen. Der Freund grinst, die Verkäuferin auch. Die Brille wird gekauft.

Verrückt. Eine neue Brille. Ein neuer Mensch! So geht optimales Optimieren. Nur schade, dass ich nächste Woche in der Schule erstmal grätzig anfangen muss, weil die Gläser erst in zehn Tagen fertig sind.

Schlimmer geht immer

Ferienhalbzeit. Ich bin nicht überzeugt davon, dass ich mich angemessen erhole. Und heute Nacht auch noch eine Stunde mehr. Was soll ich damit? Wache ich nicht um vier auf, sondern um drei. Ich wache immer auf, weil ich trinken muss. Dann schlafe ich wieder ein und dann muss ich aufs Klo.

Warum musst du trinken? fragt Frau Dienstag.

– Weil meine Kehle so ausgetrocknet ist.
– Voll blöd, sagt Frau Dienstag.

Kurz fühle ich mich gut. Mitleid tut gut. Aber dann sagt sie, es käme vom Schnarchen und man könne lernen nicht zu schnarchen.

– Du musst Bier trinken! Schlägt sie dann vor.
– Nachts?
– Ja.

Ich kann doch nicht nachts Bier trinken. Wird man dann nicht im Schlaf besoffen? Ich kann auch nicht zum Arzt gehen. Aus diversen Gründen:

1. Ich glaube man braucht einen Hausarzt – hab ich nicht
2. Muss der Hausarzt einen nicht an einen HNO Arzt überweisen?
3. Die trockene Kehle könnte auch was mit dem Rauchen zu tun haben.
4. Für so einen Arzt ist es ja leicht zu sagen: Rauchen aufhören!
5. Was ist, wenn er was Schlimmes feststellt. Darauf habe ich keinen Bock, denn
6. Reicht mir, dass ich noch die Steuer machen soll

– Du brauchst einen Hund, sagt Frau Dienstag.

Einen Pudel bräuchte ich, mit dem könnte ich dann morgens rausgehen und draußen rauchen. Ich kann doch aber auch drinnen rauchen und ich will gar nicht morgens rausgehen, wenn ich nicht zur Schule muss. Angeblich hätten voll viele Frauen jetzt einen Hund. Schöne Hunde hätten die. Hund statt Kind, denke ich. Deshalb also den Pudel. Da wo ich wohne, sehe ich die Frauen mit den Hunden aber gar nicht. Sie sieht sie. Statussymbol, sagt sie. Brauch ich nicht, denke und sage ich. Sie sagt: Ich rede nicht mehr schlecht über Frauen mit Hunden, wenn du einen hast. Versprochen. Ich bin noch nicht überzeugt.

Ich habe Fruchtfliegen. Viele und überall. Sie fliegen mir in die Nase, wenn ich auf der Couch liege. Wir haben kein Obst. Ich frage mich was sie bei uns wollen und wo sie herkommen. Sie fliegen auf den Bildschirm und ich zerquetsche sie mit dem Finger. Es werden trotzdem nicht weniger. Ich kann sie auch an der Fensterscheibe mit den Füßen zerquetschen. Klappt nicht immer. Sie krabbeln die Fenster hoch und runter.

Hätte ich Alltag und Schule, dann hätte ich keine Zeit, mir über die Fruchtfliegen Gedanken zu machen. Oder über diesen trockenen Fleck in meinem Hals oder über Hunde. Dann wäre: Englischarbeit und Simple Past und Betriebspraktikumsplatz und unfertige Lebensläufe und Schulversäumnisanzeigen und sowas. Wichtiges halt.

Frau Dienstag schickt mir Fotos von gestreiften Keksen, die sie gebacken hat. Das macht sie immer. Backen, dann Fotos schicken. Ich sage: War klar gewesen, dass jetzt wieder Kekse kommen. Sobald es draußen kalt wird, rennt sie auf Weihnachten zu. Ich sage: Will ich nichts von wissen, wenn ich keine kriege.
Aber dann offenbart sie ihr wahres Problem. Sie weiß nicht, ob sie sich eine Küchenmaschine kaufen soll. Weil eigentlich macht sie den Teig so gerne mit der Hand, aber die Küchenmaschine sei gerade im Angebot und das nur für eine Woche. Sie hätte jetzt schon Verlustängste, den Teig nicht mehr selbst zu kneten.

Ich sage: Kauf sie nicht.

Sie sagt, dass man während die Maschine knetet schon das Backblech einfetten kann.

Ich sage: Kauf sie!

Sie sagt: menno ich weiß nicht, was ich machen soll.

Ich sterbe an Kehlkopfkrebs und soll mir einen Hund anschaffen aber ihre Probleme sind dann doch schwerwiegender. Vielleicht soll ich ihr doch von den Fruchtfliegen erzählen. Das würde sie schocken. Fruchtfliegen Ende Oktober. Gerade habe ich eine auf meiner To-Do-Liste zerquetscht. Genau zwischen: Steuer 2016 und Klassenfahrtsabrechnung.

Eins ist mal klar: Für mich hat man die Ferien nicht erfunden.

Sterbehilfe

Facebook schickt mir Werbung für Sterbebegleitung. Bin kurz davor die durchzulesen.
Scheißferien. Sind kein brauchbares Konzept für mich. Ferien funktionieren nicht. Wenn man nicht woanders als hier ist, was soll man denn dann machen? Putzen? Aufräumen? Unterricht vorbereiten? Und die, die nicht hier sind, die liegen am Strand oder haben sonstwo Spaß. Nö. Einen Scheiß werde ich vorbereiten.

Ist das Konzept in den Ferien, das zu machen, was man sonst nicht schafft? An Vorsorge glaube ich nicht. Ist teuer und macht keinen Spaß. Neue Brillengläser? Pffff. Keine Lust. Klamotten kann ich auch keine mehr kaufen, weil ich keinen Platz mehr habe. Platz ist so eine Sache. Was machen andere Leute in ihren Ferien? Was macht Nick Cave heute? Wahrscheinlich hat der noch ein Konzert und denkt: Oh wie geil wäre das jetzt, Ferien zu haben. Ha, aber wenn er dann Ferien hätte … wat macht er dann?

Frau Dienstag tut so, als hätte sie keinen Ferienstress. Sie macht einfach weiter mit Sachen, die nicht zur Schule gehören. Sie macht sich was vor. Fenster putzen, tzzzz. Zahnarzt… wahrscheinlich sortiert sie in ihrer Wohnung noch irgendwas von links nach rechts. So macht man sich was vor. Dafür sind Ferien nicht da! Man soll sich erholen. Aber mir kommt das zu plötzlich. Plötzlich will keiner was von einem. Erst musst du dauernd im Dunkeln aufstehen, in die kack U-Bahn und dich stundenlang durch die Schule schleppen und plötzlich heißt es: Ausschlafen! Hähhh? Wie soll das denn gehen? Schläft Frau Dienstag überhaupt aus oder arbeitet sie ihre TO Do Liste schon um halb sieben ab? Ist ja nicht so, dass ich mir keine Liste gemacht hätte. Die liegt hier auf dem Schreibtisch und starrt mich an. Fühlt sich auch nicht gut an. Nichts auf der Liste verspricht Spaß zu machen. Warum schreibt man sich überhaupt solche Listen, wenn man die dann doch nicht abarbeitet? Steuer 2016, Klassenfahrt vom Sommer abrechnen, Noten ausrechnen, Texte Klasse Sieben verbessern…. wie weit entfernt von Ferienspaß ist das denn?

Ich mache eine neue Liste. Da steht dann: viel rauchen, viel Kaffee, etwas ungesundes essen, ein schlechtes Buch lesen… unterhaltsam aber schlecht, irgendwas was „leicht zu lesen ist“ – das höre ich oft über meine Bücher: „liest sich leicht“ … ha, wisst ihr was? Schrieb sich auch leicht. So, was kommt noch auf die Liste? Drinnen bleiben. Auf jeden Fall drinnen bleiben, auch, wenn draußen die Sonne scheint und abends die Höhle der Löwen gucken. Die Höhle der Löwen entwickelt sich langsam zu meiner Lieblingssendung.

Ich will auch Unternehmer sein und irgendwas skalieren. Ist Unternehmersein am Ende ein besserer Beruf als Lehrerin? Die Schüler wollen immer Chef werden. Arbeiten wollen sie irgendwie nicht. Sie wollen irgendwas haben. Wenn ich sage: „Werd doch Koch!“, dann überlegen sie ein paar Sekunden und sehen sich sofort in ihrem eigenen Restaurant. Als meine Klasse zur Betriebsbesichtigung in einem Sportwagenautohaus war, haben sie erstmal gemeckert, dass sie sich nicht in den Porsche setzen durften und die einzige Frage, die sie hatten war: „Wie wird man hier Chef?“
Als Lehrerin ist man ja auch Chef. Würden die Schüler nicht so sehen. Aber was wissen die schon? Ich bestimme ja immer noch, was gemacht wird. Wenn sie fragen: „Können wir dabei Musik hören?“ Dann sag ich eiskalt: „Nein!“ Weil ich der Chef bin. Aber in den Ferien? Von was bin ich da Chef? Jetzt treffe ich gleich Frau Dienstag und dann gehen wir zum Sport. Vorher trinken wir einen Orangensaft. Für Kaffee ist es zu spät. Sogar in den Ferien. Frau Dienstag wird mir erzählen, was sie heute alles geschafft hat. Als ginge es ums schaffen. Was schaffen denn die Leute, die weggefahren sind? Nichts! Ich werde mir das alles anhören und sagen, dass ich mein Buch beendet habe. Und dann über das Buch sprechen. Das Buch, das mir eingetlich gar nicht so gut gefallen hat. Dauernd dachte ich: Na, hier hätte sie aber so und dort nicht so machen können. Und dann hat sie auch noch so einen hohen Vorschuß für das Buch bekommen. Das freut mich zwar, aber das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum das Buch ein Erfolg ist, auch, wenn es gar nicht so gut ist.

Heute

„Die Fenster sind schon geputzt!“, sagt Frau Dienstag. Natürlich sind die Fenster schon geputzt.
Wir haben seit gestern Ferien. Und was macht Frau Dienstag? „Ich hab mir gleich eine TO DO Liste gemacht.“
Mir machen die Ferien zu schaffen. Ich schaff nix. Morgens lese ich ein Buch und dann ärgere ich mich über das Buch. Aber ich muss es fertig lesen, damit ich dann die Kritiken zum Buch im Internet suchen kann. Haben die Kritiker die gleiche Kritik wie ich? Ja. Und schon ist mein Vormittag ein bisschen gerettet. Draußen ist auch schlechtes Wetter. Muss man sowieso drinnen bleiben. Fenster putzen geht auch nicht, weil es von außen zu kalt ist. Halb zwei das Buch beendet, um zwei sämtliche Kritiken gelesen, um drei die Zähne geputzt. Das war’s. Was jetzt? Noch fast zwei Wochen Ferien.

Tiramisu und Heumilch

An der Kasse ist es dann doch voller, als ich dachte. Ich war einkaufen. Ich gehe nie einkaufen. Bei uns füllt der Freund den Kühlschrank und ich esse alles, was er anschleppt. Aber jetzt ist der Freund verreist und ich habe schon alles vertilgt, was in der Küche war. Kann man eigentlich sterben, wenn man nur Brot mit Frischkäse isst?
Ich war überrascht, was es bei Edeka alles gibt. Der Freund kauft ja eigentlich immer das Gleiche. Überrascht und überfordert war ich. Hunger hatte ich auch. Dabei soll man doch nicht einkaufen gehen, wenn man Hunger hat. Aber wenn man satt ist, dann geht man doch nicht einkaufen? Dann denkt man doch nicht ans Essen.
Jetzt stehe ich an der Kasse und lege meine Lebensmittel aufs Band. Drei Packungen Mascarpone, Eier, und Kakaopulver. Ich will mir Tiramisu machen. Vor mir steht eine Frau mit ihrer Tochter. Die Tochter ist wahrscheinlich 4 oder 5 oder 3? Die Frau hat sechs Kratons Milch aufs Band gelegt. Ich hasse Milch. Auf den grünen Packungen steht Bio. Und dadrunter: Heumilch. Heumilch? Was soll das sein? Milch aus Heu? Ist das überhaupt Milch? Dann liegen da noch Bio-Papikaschoten und Bio- Möhren und ein Gurke. Mein Löffelbiskuit platziere nur Millimeter hinter ihre von ihre Gurke. Soll ich da jetzt diesen Warenstopper zwischen uns stellen? Oder muss sie das machen? Sozusagen als Abschluss ihres Aufs-Band-lege-Vorgangs? Ich mache mal nichts. Vielleicht zahlt sie meine Sachen mit. Ich gucke mir ihren Bioeinkauf an und dann zu meinen Sachen. Jeder kann sehen, dass ich Tiramisu machen will. Die zwei tiefgefrorenen Salamipizzen und die Fünfminutenterrinen sprechen auch eine deutlich Sprache.
„Mama, kann ich zuckerfreie Kaugummi haben?“, fragt die Tochter. Sie hat sehr kurze Haare für ein Mädchen, aber einen Rock an. Vielleicht ist der Haarschnitt so ein Genderding. Aber die Kombination Megakurzhaarschnitt und Rock ist irgendwie seltsam. Ich denke: Minicrossdresser. Und überhaupt… Rock! Die Mutter trägt eine Wollmütze und ihre Tochter hat nackte Beine. Wenn ich eine Tochter hätte, die wäre jetzt schon im Wintermantel und kratzigen Strumpfhosen.
„Guck, die sind ohne Zucker!“, sagt die Tochter und hält ihrer Mutter die rosa Packung vor die Nase. Die Mutter liest sich die Zutaten durch. Das Mädchen wartet geduldig. Heißt das hier nicht die Quengelzone? Die Mutter liest noch, während die Tochter eine Packung bunte Bonbons entdeckt.
„Die sind mit Zucker, oder?“ fragt sie und weiss schon, dass sie die nicht mal nach oben reichen muss. Dann entdeckt sie die Kinderüberraschungsspardose. Liebevoll streicht sie über das Plastikei mit Basballmütze, dass ihr die Arme entgegenstreckt. Natürlich will sie am liebesten die Spardose. Hallo?! Ein Riesenei mit lauter Überraschungseiern im Bauch und dadrin noch mal lauter Überraschungen und dann noch die Spardose. Plastik und Zucker! Welches Kind würde dazu nein sagen?
Die Mutter hat mittlerweile die zuckerfreien Kaugummi für gut erklärt und die Packung hinter die Heumilch gelegt.
„Du Lilo, wir haben jetzt noch eine Stunde Zeit.“ Lilo? Das Mädchen heißt Lilo? Wie Lilo Pulver? Ist das die Kurzform von Liese-Lotte? Hat die Frau ihre Tocher Lieselotte genannt oder gleich Lilo?
Lilo! Lilo… und dann diese kurze Haare? „Wir haben noch eine Stunde. Sag mal, wollen wir nach Hause gehen oder noch auf den Spielplatz?“ Lilo antwortet nicht. Sie starrt immernoch auf die Kinderüberraschungsspardose.
Nach Hause oder auf den Spielplatz? Würde ich meine Tochter sowas fragen? Wenn ich keine Lust auf Spielplatz hätte, dann bestimmt nicht. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass ich jemals Lust auf Spielplatz hätte. Aber irgendwie schon schön, dass die Mutter ihrer Tochter die Entscheidung überläßt. „Willst du das oder lieber das?“
Wenn ich die Kinder in der Schule etwas frage dann sind das so Sachen wie: Wo warst du in Mathe? Wie sind die drei Formen von go? Warum hast du keinen Bleistift dabei.
Dabei ist es doch wichtig, die Kinder Entscheidungen treffen zu lassen. Obwohl…, ich frage auch: Kannst du jetzt ruhig sein oder musst du kurz den Raum verlassen? Und gerade letzte Woche habe ich meine Klasse vor die Wahl gestellt beim Wandertag am Staffellauf teilzunehmen oder einmal um den Wannsee zu laufen. Jetzt nehmen wir am Staffellauf teil. Genau das wollte ich. In der Schule entscheiden sich die Schüler eigentlich immer für das was ich will. „Wollt ihr die drei Sätze jetzt von der Tafel abschreiben oder zu Hause drei Seiten über das Leben von Picasso anfertigen?“
Wenn die Mutter nicht auf den Spielplatz will, dann müsste sie eigentlich nur fragen: „Lilo, willst du nach Hause oder auf den doofen Spielplatz mit dem nassen Sand und dem Hundekot, wo immer die drei Brüder spielen, die dich das letzte Mal gehauen haben. Du Lilo, sag mal! Deine Entscheidung.“
„Achtundzwanzig, dreißig!“, sagt der Kassierer und die Frau gibt ihm einen Fünfzig Euroschein. Mein zuckerhaltiger Kram kostet nur 13 Euro. Lilos Mutter packt ihre Milch und ihr Gemüse in einen Rucksack. Ich hab nicht an eine Tasche gedacht und beuge mich zu den Tüten runter.
Lilo, Heumilchfrau, guckt, ich nehme die Papiertüte! Nur weil ich mich von Pizza und Tiramisu ernähre heißt das noch lange nicht, dass mir die Umwelt egal ist! Das hättet ihr nicht gedacht. Oder? Aber die drehen sich gar nicht um.

Lang, platt und niveaulos

Morgen fängt die Schule an. Also wir waren schon drei Tage in der Schule, aber morgen kommen die Schüler.
Ich stehe vorm Spiegel. Mist, ich wollte doch noch zum Friseur. Sechs Wochen Zeit und dann am letzten Ferientag: Huch, keine neue Brille, keine Zahnprofilaxe und nicht beim Friseur gewesen.

Frustriert von meinen kaputten Haarspitzen wende ich mich Facebook zu und denke: Was ist denn jetzt los? Kann Facebook meine Gedanken lesen oder beobachtet mich Mark Zuckerberg heimlich durch die Kamera meines iPads und sieht meine verwurschtelten Haare? Hinter den Urlaubsfotos meiner Freunde taucht plötzlich dieser Artikel auf. Überschrift: Das sind die 10 besten Haarstyles für Frauen ab 50. Häh? Woher weiß Facebook, dass ich fast 50 bin? Okay, irgendso ein Algodings kann das aus meinem angegebenen Geburtstag errechnen. Aber woher weiß Facebook, dass ich zum Friseur wollte? Egal. Und ist doch eigentlich super, dass ich jetzt erfahren kann was das Beste für mich und meine Haare ist.
Vor den Bildern gibt es erstmal einen kurzen Einführungstext:

Frauen mit fünfzig können sich nur einen einzigen Haarstyle leisten? Kurz und praktisch? Von wegen! Wir sagen: 50 ist das neue 40. Und wir wissen: 40 ist das neue 30. Und mit diesem neuen 30 kann man sich einige Frisuren mit langen, mittellangen und kurzen Haaren leisten.

Ich lese diese Zeilen drei Mal und bin immernoch verwirrt: 50 ist also das neue 40 und 40 ist das neue 30. Das wußte ich gar nicht. Ist dann 30 das neue 20 und 20 das neue 10? Aber gut. Bin ich also nicht 50 sondern 30. Schlagen die mir jetzt einen Iro vor? Ich bin gespannt.

Der erste Frisurenvorschlag heißt: Super kurz und super vielseitig. Unter der Überschrift ist ein Bild einer sehr, sehr jungen Frau, die auf keinen Fall 50 ist, sie sieht nicht mal wie eine genuine 30 Jährige aus. Sie ist höchstens Mitte 20 und die Haare sind grau gefärbt, man sieht ihre sehr, sehr dunklen Ansätze. Bei einer richtigen 50 Jährigen wäre das ja umgekehrt: Die dunkelgefärbten Haare würden grau nachwachsen, wenn man, wie ich zu faul zum regelmäßigen Färben ist. Ich fühle mich also schonmal ein bisschen betrogen. Mal sehen, was unter dem Bild steht:

Einige super kurze Haarschnitte wirken schwer und streng. Das sind nicht gerade zwei Begriffe, die man mit einem Jungbrunnen verbindet. Deshalb ist eine Kurzhaarfrisur mit einem weichen Schnitt besonders attraktiv und für Frauen in den 50ern geeignet. Leicht chaotisch und etwas fransig – das macht jung und ist besonders vielseitig.

So so, leicht chaotisch und etwas fransig macht uns also jung und vielseitig. Was soll das eigentlich heißen: jung und vielseitig? Und diese Kurzhaarfrisur kommt bei mir sowieso nicht in Frage. Meine Haare sind viel zu dünn. Und so ein superkurzer Pony, der nur bis zur Mitte der Stirn geht, das habe ich in den Neunzigern schon probiert. Ich sah aus wie jemand, der sich die Haare mit einer stumpfen Schere selbst geschnitten hat und dann aus der Nervenheilanstalt getürmt ist. Aber mal sehen, was sie mir noch vorschlagen.

Die nächste Frisur heißt: Der Anit-Kurzhaarschnitt.
Auf dem Bild ist Annett Bening mit einem Haarschnitt, der sehr nach missglücktem Eigenversuch aussieht. Die Haare sind mal kurz mal lang, stehen hoch aber irgendwie auch nicht. Und überhaupt Annett Bening? Die ist doch 59. Okay, nach deren Logik ist wahrscheinlich 60 das neue 50. Demnach ist sie mit ihren 49 doch nicht fehl am Platz. Unter dem Bild steht:

Ein Kurzhaarschnitt, der eher ein Anti-Kurzhaarschnitt ist, weil er überhaupt nicht vorhersehbar ist: Er funktioniert für alle Haartypen, betont Ohren, Nase und Kinn. Der Pony ist seitlich, fransig geschnitten – ein Style, der zu jedem Anlass passt und absolut im Trend ist! Allerdings ist dieser Haarschnitt auch sehr gewagt und passt nicht zu jeder Kopfform. Gerade wenn man vorher recht lange Haare hatte, dann ist diese Frisur schon ein mutiger Schritt.

Die nennen diese Frisur also Anti-Kurzhaarschnitt, weil sie überhaupt nicht vorhersehbar ist? Häh? Ist Frau Benning zum Friseur gegangen und wollte eine Dauerwelle und dann: Viola! Der Anti-Kurzhaarschnitt. Na, damit hätten Sie nicht gerechnet, Frau Benning, oder?

Dieser Antikurzhaarschnitt sei für alle Haartypen geeignet. Das klingt gut. Aber er betone auch noch Ohren, Nase und Kinn. Na, ich weiß nicht. Ob das immer nötig ist? Diese drei Körperteile hören doch gar nicht mehr auf zu wachsen. Die vergrößern sich mittlerweile seit 30 Jahren und ich glaube es ist gar nicht so eine gute Idee die zu betonen. Oder was meinst du, Frau Dienstag? Nee, nee, ich guck mal was sie noch vorschlagen:

Frisur Nummer 3: Stillvoll und klassisch: Der Bob

Na, der ist jetzt keine Überraschung. Okay, die schreiben ja selbst klaschisch. Heißt klassisch in diesem Zusammenhang nicht vielleicht einfach alt? Auf dem Bild ist wieder eine ältere Frau, also definitiv älter als ich, aber sie ist auf jeden Fall viel selbstbewußter als ich, denn sie trägt ein ärmelloses Kleid und sehr häßliche große Ohrringe. Der Bob steht ihr. Kann man nicht meckern. Sie sieht gut aus. Aber Achtung, da kann wohl so einiges schiefgehen, wenn man beim Friseur nach einem Bob fragt:

Die A-Linienform und die Länge machen den Bob schon stilvoll und zu einem wahren Klassiker. Gerade für dünner werdendes und feines Haar macht er sich wahnsinnig gut! Es empfiehlt sich, die Spitzen mit der Rasierklinge zu schneiden. Fragen Sie Ihren Friseur, ob er das kann! Schneidet man die Spitzen mit der Schere, sehen sie schnell aus wie die Borsten eines Besens. Ein Geheimtipp für den perfekten Bob: Er endet am Kinn und muss daher regelmäßig geschnitten werden.

Also dünner werdendes Haar habe ich ja schon mal. Lucky me! Aber jetzt soll ich meinen Friseur fragen, ob er das mit der Rasierklinge kann? Auweia. Also erstmal frage ich mich, können das nur Friseure oder auch Friseurinnen und was ist, wenn er sagt: Nö, kann ich nicht und dann mit der Schere schneidet. Ich will doch nicht wie ein Besen aussehen. Also der ist mir definitv zu riskannt dieser Bob. Und man darf doch keinen Friseur fragen, ob er irgendetwas kann. Wo kämen wir denn dahin? Die Eltern fragen mich doch auch nicht, ob ich Unterrichen kann. Das wäre ja noch schöner. Nee, nee, also kein Bob für mich.

Der nächste Frisurenvorschlag ist der Long-Bob. Der sei progressive und modern. Den hätte ich sowieso in ein paar Monaten, nachdem ich mir den kurzen Bob hätte rasieren lassen. Der sieht auch langweilig aus. Die Frau auf dem Bild mag ihn aber. Im Text steht, dass der für Frauen ist, die mehr vom Leben erwarten. Tu ich ja nicht. Also auf zum nächsten Haarschnitt.

Nummer 5: Mittellange lockere Wellen

Frau in Orange mit komischer Bernsteinkette. Auch eine Schauspielerin, die man uns hier als 50Jährige verkaufen will. Diese Hollywoodfrauen, die noch so gut aussehen sind immer mindestens schon 70. Aber sehen eben noch super gut aus. Schade, dass ich nicht weiß, wer sie ist. Sie ist auf keinen Fall meine Generation. Schon weil wir ja keine dicken Bernsteinketten tragen würden. Unter dem Bild steht:

Sie denken mittellange Haare bis zum Schlüsselbein sind out?

Nö, dachte ich eigentlich nicht. Sagen wir, hab ich mir eigentlich noch nie Gedanken drüber gemacht. Und jetzt sehe ich, dass sie schreiben, dass die Frau auf dem Bild Madonna sein soll.

Der Gegenbeweis ist Madonna! Ihre lockeren Wellen wirken kühler und erwachsener als glatte, voluminöse Haare – das ist modern und macht äußerst jung.

Niemals ist das Madonna! Und Madonna ist doch auch schon 59.

Frisurvorschlag Nummer 6: Unsichtbare Lagen für einen weichen Schnitt. Die Frau auf dem Bild (keinen Tag älter als 27) sieht aus wie Lady Di in ihrer übelsten Zeit, da muss ich nicht mal den Begleittext zur Frisur lesen. Dieser Haarschnitt kommt mir nicht in die Tüte.

Frisur Nummer 7 heißt nur profan: Mittellange Haare. Auf dem Bild: Liz Hurley mit mittellangen Haaren. Normal halt. Genauso ist dann auch der Text zur Frisur: Steht eigentlich jedem und man kann auch mal einen Friseurbesuch ausfallen lassen. Einen? Ich lasse oft im zweistelligen Bereich ausfallen. Ich lasse die Friseurbesuche so oft ausfallen, dass ich, wenn ich dann endlich gehe, so dermaßen von den Friseuren angemeckert werde, dass ich immer erwarte, dass sie sagen: Tja, da hilft jetzt nur noch Glatze!

Die Frau auf dem Bild bei Frisur Nr 8 (Lang, glatt und definiert) sieht aus wie so eine Frau aus der nachmittags Werbung im ZDF. Reumamittel oder Treppenlifter. Sie ist so um die 40 und hat grau gefärbte lange Haare und man denkt zwangsläufig: Die armen Fotomodels, was die immer mitmachen müssen. Unter dem Bild steht, dass auch Frauen über 50 ruhig lange Haare tragen dürfen, allerdings nur mit sauberem und definiertem Schnitt. Au Backe, wie würden die denn meine Frisur nennen? Lang, platt und undefinierbar. Eigentlich darf ich diese Frisur auch nicht haben, denn man darf gar keinen Friseurbesuch ausfallen lassen und die Haare müssen sehr gepfegt sein, damit sie nicht an Niveau verlieren. Also auf meinem Kopf: Lang, platt und niveaulos.

Vorschlag Nummer 9 (Frau Dienstag aufgepaßt!): Volumen und Locken – nicht nur für die Jugend. Michelle Pfeiffer (59) zeigt uns wie’s geht. Aber Achtung was das Volumen betrift. Das wandert anscheinend mit dem Alter in die Haarlängen!
Voluminöse Locken sehen zu jugendlich aus, denken Sie? Da sind Sie auf der falschen Spur! Auch Frauen mit 50 können sich eine lange, wallende Mähne leisten. Der Unterschied: Das Volumen beginnt nicht, wie bei jungen Frauen, am Ansatz, sondern in den Längen. Das ist der Schlüssel für eine altersgerechte Mähne!

Altersgerechte Mähne, naja…

Den wirklichen Frisurenhammer haben die Macher dieses Artikels für die Nummer 10 aufgehoben. Hüftlange Haare – auch für Frauen 50+
Und 50+ ist der Frau auf dem Bild wirklich sehr geschmeichelt. Die ist mindestens 80 und sieht aus wie… tja, wie sieht sie eigentlich aus? Ich hab noch nie eine so alte Frau mit so langen grauen Haaren gesehen. Vielleicht in irgendeinem Märchenfilm oder in der ZDF Werbung, aber nicht in Natura. Und unter dem Bild steht:

Hüftlange Haare können auch mit 50+ wirklich zauberhaft und jugendlich aussehen. Voraussetzung ist, dass das Haar gepflegt, gesund und dick genug ist. Für Frauen mit dünner werdendem Haare eignen sich Extensions. Sie verleihen der Frisur ein gesundes Aussehen und genug Fülle.

Abgesehen davon, dass ich gar nicht zauberhaft aussehen möchte, erfüllen meine Haare keine der Voraussetzungen…gepfegt, gesund und dick. Und was soll eigentlich immer dieses „Frauen mit dünner werdendem Haar“? (Ha, die schreiben „mit dünner werdendem Haare“ – voll fasch, oder?)
Meine Haare werden nicht dünner. Die sind dünn. Ich glaube die verändern sich gar nicht, die fallen einfach aus. Aber Extensions? Ich weiß nicht.

So. Jetzt bin ich ja genauso schlau wie vorher. Danke Facebook! Vielleicht wasche ich meine Haare einfach mal wieder. Bürsten kann auch nicht schaden und den Artikel 10 Styling Fehler, die dich alt machen lese ich einfach gar nicht.

Wer die Hosen an hat

Draußen ist voll kalt. Ich war extra heute Vormittag draußen, damit ich jetzt drinnen bleiben kann. Ganz ohne raus am Wochenende geht ja auch nicht. Also geht schon – macht man aber nicht.
Am Wochenende muss man also raus. Stellt sich die Frage – wohin. Am besten irgendwas erledigen. Das erhöht dann noch das gute Gefühl, wenn man wieder zu Hause ist: Ahh, gut! Habe ich das auch erledigt!
Allerdings – was hat man am Samstag zu erledigen? Lebensmittel einkaufen mache ich ja nicht. Aber kaufen klingt gut.

Ich habe momentan zwei identische Jeans, die ich im Wechsel anziehe. Jeden Morgen denke ich: Na toll, die Schüler denken bestimmt, dass ich nur eine einzige Hose habe. Dabei sind das zwei. Aber ich kann ihnen ja schlecht sagen, dass ich gestern eine andere Hose anhatte, als heute. Ich besitze natürlich wesentlich mehr Hosen, aber die traue ich mich momentan gar nicht anzuziehen. Neulich sagte ich zu einer Freundin: Wenn du kein Nein als Antwort akzeptieren kannst, dann frag lieber erst gar nicht. Und so ist das mit meinen Hosen auch. Ich könnte es nicht ertragen, zu merken, dass die mir jetzt im Winter alle nicht mehr passen, also bleiben sie schön auf dem Hosenstapel liegen. Die zwei Jeans, die ich immer anziehe wachsen irgendwie mit mir mit. Ich werde dicker, sie werden weiter. Klassiche Win-win-Situation.
Gehe ich mir doch Hosen kaufen, dachte ich mir heute morgen. Gesagt getan. Danach mit Frl. Krise und Frau Dienstag zur Aquagymnastik und dann auf die Couch. Eine perfekte Planung.

„Ich gucke erstmal.“ Oh Mann, dass man das immer wieder sagen muss. Jeder guckt erstmal. Warum lassen die Verkäuferinnen einen also nicht einfach in Ruhe. Wenn ich dann später in Unterhose in der Umkleidekabine bin und die dann doch zu kleine Hose nur halb über die Oberschenkel bekomme, dann sollen sie kommen, diese engagierten Verkäuferinnen. Dann sollen sie sagen: „Ich bringe ihnen gerne das gleiche Modell in Größe 30.“ Wenn ich zehn Hosen anprobiert habe und keine gefällt mir, dann sollen sie mich anlächeln und sagen: „Kein Problem, ich hänge die wieder auf.“ Aber wenn ich in den Laden komme und die Tür ist noch nicht mal wieder zu, dann sollen sie schweigen und mich erstmal gucken lassen.
Mein erstmal Gucken bringt mich gleich zu den Sonderangeboten. Super. Alles 50% billiger. Da ist ja dann eigentlich egal wie die aussehen. Denkt man immer so. Aber wenn man dann eine Hose kauft – auch wenn die sehr reduziert ist und man trägt die, dann kann man ja den Leuten schlecht sagen: „Ich weiß, die sitzt am Arsch irgendwie komisch aber die war von 120Euro auf 60 runtergesetzt.

Ich scanne durch die Sonderangebote, da steht die junge Verkäuferin schon wieder hinter mir. Die langweilt sich wahrscheinlich auch. Ich bin ja die einzige Kundin hier. Also erbarme ich mich: „Haben Sie die auch in M? Gibt es die auch in schwarz? Sind die alle eng?“ Ein paar Minuten später stehe ich mit 10 Hosen in der Umkleidekabine. Schuhe aus. Mist, Loch im Strumpf. Meinen Schal und meine Mütze lasse ich an. Haare sind nicht gewaschen. Ich will ja später sowieso noch zur Auqagymnastik. Aber wenn die nette Verkäuferin jetzt meine fettigen Haare sieht, dann denkt die bestimmt, dass ich alle ihre Hosen schmutzig mache, weil ich aussehe, als hätte ich einen Woche nicht geduscht. Geduscht hatte ich ja… aber eben ohne Haare waschen.

Ich ziehe eine graue Wollhose an. Passt. Fühlt sich gut an. Ich verlasse die Kabine und draußen wartet das Verkäufermädchen schon auf mich. Sie ist sehr jung. Sie könnte nicht mal meine Tochter sein. Sie könnte in meiner Klasse sitzen. Trotzdem nimmt sie ihren Job sehr ernst und mustert mich in der grauen Wollhose von allen Seiten. „Sitzt gut“ stellt sie fest. Mit einem: „Ich probiere mal die Schwarze“ verschwinde ich wieder in meiner Umkleidekabine. Die Schwarze passt auch super. Ist auch nicht weiter verwunderlich. Gleiche Hose – nur andere Farbe.

„Die sieht besser aus!“ sagt die Verkäuferin, ohne, dass ich sie gefragt hätte. Ich finde auch, dass die schwarze besser ausssieht. Allerdings sah sie in grau auch gut aus. Super denke ich: Nehme ich beide. Dann habe ich gleich zwei neue Hosen und da wird dann auch niemand denken, dass das die gleiche Hose ist. Optisch habe ich dann für die Schüler schonmal drei unterschiedliche Hosen.

Ich probiere noch die ganzen anderen Sonderangebote an und die Verkäuferin und ich werden langsam zu einem eigespieltem Team. Ich verlange nach anderen Farben und größeren Größen und sie rennt rum und reicht mir alles in die Kabine. Zur Belohnung komme ich zwischendrin immer wieder raus und drehe mich vor ihr und dem Spiegel.
„Habt ihr eigentlich nur enge Jeans?“ In der Hoffnung, dass das mit diesen hautengen Jeans ja irgendwann auch mal wieder vorbei sein muss. Ich folge ihr in den vorderen Bereich des Ladens und sie hält mir eine Hose entgegen, auf die ich schon beim Reinkommen geguckt habe. Da dachte ich: Schöne Farbe. Aber leider offensichtlich für Kinder. Und jetzt hält mir die Verkäuferin dieses Miniteil vor die Nase. „Nicht wundern. Die ist zeimlich kurz. Ankel Jeans.“ Ankel kenne ich aber von Ankel Jeans hatte ich noch nie gehört. Das heißt aber nichts. Der Boyfriendstyle ist auch sang und klanglos an mir vorüber gegangen. „Kann ich ja mal anziehen“ sage ich und denke. Hmm – so kurz… was soll das? Da friert man doch am Bein. Vielleicht für den Sommer. Ich ziehe sie an und stelle schnell fest, dass das nichts für mich ist. Ich will auch im Sommer keine Hose tragen, die wie eingelaufen aufsieht.

„Sorry… ich glaube der Ankel Look ist nichts für mich.“ Entschuldige ich mich bei dem Mädchen und fühle mich ein bisschen schlecht. Ich kann mich gerade noch beherrschen „dafür bin ich schon zu alt“ zu sagen. Eigentlich bin ich für den ganzen Laden zu alt. Aber das muss ich ja hier nicht extra betonen. Bei Modeschauen tragen ja auch immer diese blutjungen Teenagermodels die Designerklamotten und dann werden die Klamotten später von den alten Frauen gekauft. Von den alten Frauen, die sich diese Sachen auch leisten können. Kann man denn eigentlich zu alt für einen Laden sein? Ja. Ich bin z.B. zu alt für H&M. Einfach, weil ich zu viel Geld habe. Ich finde ich darf nicht bei H&M einkaufen, weil ich nicht auf diese total billigen Klamotten angewiesen bin. Ich bin irgendwie zwischen Boss und Zara. Aber definitiv bin ich jenseits von Ankel Jeans.

Ich verziehe mich wieder in meine Umkleidekabine und den 15 Hosen, die ich anprobiert habe.
„Ich glaube ich habe jetzt genug gesehen.“ Rufe ich. „Ich werde jetzt meine Kaufentscheidung treffen.“ Ich bin mir nicht sicher, ob ich das nur gedacht oder tatsächlich gesagt habe. Gewissenhaft sortiere ich die Hosen: Die nehm ich, die nicht, aber die und die, die nicht, aber die.
Plötzlich ruft die Verkäuferin: „Ja. Jetzt muss man sich entscheiden. Wer die Wahl hat, hat die Qual.“ Und ich denke: Nee! Die Qual der Wahl haben junge Frauen. Mit vier neuen Hosen in unterschiedlichsten Farben verlasse ich stolz den Laden.

Opelhaus

„Jetzt gehen wir aber gleich rein und gucken uns die Neuwagen an!“, sagt Frau Dienstag und zieht mich am Arm in das große Opelhaus. Eine riesige Halle. Ein paar Verkäufer stehen im Anzug um einen Schreibtisch und quatschen. Überall stehen glänzende Autos. Die drei Opel Adams fallen uns sofort ins Auge. Einer ist rot, einer blau und einer silber.

„Sind die süß“, sagt Frau Dienstag und steuert auf den roten zu.
„Kann man sich da einfach reinsetzen?“, frage ich und gucke zu den Männern am Schreibtisch. Die beachten uns gar nicht. Müsste da nicht einer rüberkommen und uns sagen, dass wir uns ruhig mal reinsetzen können? Frau Dienstag ist schon an der Beifahrertür. Na, wenn die uns nicht bedienen wollen, dann bedienen wir uns halt selber. Ich setze mich auf den Fahrersitz. Ist doch eigentlich auch schöner erstmal ohne Verkäufer in dem Auto zu sitzen. Unser blödes Gequatsche wäre mir ja vielleicht peinlich. Statt sich über die unterschiedlichen PS Zahlen und den Verbrauch zu unterhalten gucken Frau Dienstag und ich doch nur, ob es Spiegel in den Sonnenblenden, einen USB Stecker und einen Getränkehalter gibt.

„Cool, Bordcomputer! Da kann der Freund dann Videos gucken.“ Frau Dienstag streichelt wieder die Amaturen. Sie ist sehr haptisch. Und diesmal strahlt sie: „Sooo schön!“ Und wirklich, das Innenleben dieses Autos gefällt mir auch. Alles sieht gut aus. Nicht so nach Auto. Mehr nach Spiel und Spaß. „Und die Sitze sind total bequem.“ sage ich „Und man hat voll viel Platz, dabei ist das Auto richtig klein“, sagt Frau Dienstag. Das mit dem Platz relativiert sich, als wir beide auf die Rückbank klettern. Auf die Rückbank zu kommen gestaltet sich schon mal schwierig, dort zu sitzen grenzt an Folter. In diesem Auto darf man nur Feinde transportieren. „Ist schon sehr eng hier hinten“, sage ich. „Aber das kann dir ja egal sein.“, sagt Frau Dienstag. „Du wirst ja jetzt nie mehr hinten sitzen. Ich sitze überhaupt nicht mehr hinten.“ Nie mehr hinten sitzen. Crazy, das kann ich mir gar nicht vorstellen. Aber wahrscheinlich hat sie recht. Zumindest wenn ich mit dem führerscheinlosen Freund unterwegs bin, werde ich wohl immer vorne hocken und fahren. Und vorne ist geil. Ich setze mich wieder auf den Fahrersitz. Man möchte sofort losfahren. Ich finde nicht mal, dass das Auto unangenehm riecht. Opel Adam – präsentiert von Germanys Next Top Model – wenn das nicht genau der richtige Wagen für mich ist.
Wir setzen uns auch noch in den Silbernen und in den Blauen. Mir gefällt der rote am besten. Weil die Handbremse auch rot ist und Teile der Amaturverkleidung auch. Ich bin so ein Mädchen.

Dann versuchen wir in den Kofferraum zu gucken. Aber wir kriegen die Klappe nicht auf. Jetzt könnte aber mal so ein Fachverkäufer kommen und uns helfen. Aber die Herren denken gar nicht daran. Stehen da und quatschen. Sie sehen jetzt nicht gerade besonders gestresst oder beschäftigt aus. Es sind außer uns auch gar keine anderen Kunden hier. Einer von ihnen könnte doch mal kommen. Die bearbeiten doch da keinen Notfall.
Frau Dienstag guckt zu ihnen, während sie immer noch an der Heckklappe rüttelt. „Entschuldigung, wie geht die denn auf?“
Widerwillig schleicht ein Jackettyp zu uns: „Da muss man erst die Batterie anstecken.“, sagt er. Ja, dann soll er das doch machen. Müssen wir ihm jetzt auch noch sagen, dass wir gerne hätten, dass er die Batterie…damit wir…ah, jetzt bewegt er sich. Ist das hier eine Behörde, oder was?

Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn uns der Kofferraum ein ewiges Rätsel geblieben wäre. „Ich nehme den roten, packen Sie mir den bitte schön ein. Wo kann ich den bezahlen?“ Und dann zu Hause – huch, da passt ja gar kein Wasserkasten rein.

„Okay, ist sehr klein hinten. Und die Rückbank ist auch nicht der Hammer, aber dafür kann man den gut parken und er ist doch auch sooo süß.“ Ich fange schon an zu relativieren. Ich bin diesem Opel Adam schon voll auf den Leim gegangen. Wahrscheinlich, weil er nicht so nach Auto aussieht.

„Lass mal in den Corsa setzen“, sagt Frau Dienstag und ich setze mich Widerwillig in diesen langweiligen, weißen Wagen. Ich bin schon verliebt und jetzt können die anderen Autos nicht mehr mithalten. „Der andere ist schöner. Die Sitze sind nicht so bequem. Die Farbe ist doof.“

Wir gehen in den ersten Stock zu den Gebrauchtwagen. Auch hier sind wir die einzigen Kunden. ich frage mich wie man die Autos hier hoch- bzw. wie man die wieder runter auf die Straße bekommen soll. Frau Dienstag sitzt schon im nächsten Auto. Ich sage: „Mach mal dein Fenster auf“ und sie lacht los. „Hähhh, keine elektrischen Fensterheber? Das geht ja gar nicht. Ich mache immer das Beifahrerfenster auf, um meinen Apfel rauszuwerfen.“ Ich glaube das finde ich nicht gut. Aber Kurbelfenster finde ich auch nicht gut. Dieser Wagen kommt also auch nicht in Frage. Wir steigen wieder aus und laufen weiter.

Vorbei an einem Typen an einem Schreibtisch. „Ich dachte hier wäre niemand“ flüstert Frau Dienstag. Aber der Typ hat sie bestimmt gehört. Irgendwie kann Frau Dienstag nicht flüstern. Die Leute hören immer alles, was sie nicht hören sollen. Einfach, weil Frau Dienstags Flüstern kein Flüstern ist.
„Also Autos zu verkaufen scheint hier nicht gerade die wichtigste Aufgabe zu sein.“ stelle ich fest und irgendwie gefällt mir das. Nichts ist schlimmer, als ein überbordender Fachverkäufer, der sich einem an die Fernsen heftet und einen nicht in Ruhe gucken lässt.

Wir gehen wieder runter. Zu meinem Opel Adam. Ich habe schon mütterliche Gefühle entwickelt. Meiner!
Der Verkäufer stellt sich zu uns. Zu viert starren wir auf den roten und den silbernen Wagen. Der eine kostest 16 000 Euro der andere 14 000Euro.

„Warum ist der eine teurer als der andere?“ frage ich.
„Andere Ausstattung“ sagt der Verkäufer. Als hätte ich mir das nicht denken können.
„Und was hat der rote, was der silberne nicht hat?“ Dem Typen muss man wohl alles aus der Nase ziehen.
„Sportverkleidung, Lenkrad- und Sitzheizung und noch so einiges mehr.“
Es ist offensichtlich, dass er kein Interesse hat uns weiter zu bedienen.
„Danke“, sagt Frau Dienstag und mit einem „Komm wir setzen uns nochmal rein.“ geben sie ihm zu verstehen, dass wir ihn aus seinen Diensten entlassen. Er geht wieder zum Schreibtisch.

„Nimm dir mal einen Katalog mit“, sagt Frau Dienstag und ich traue mich nicht zu fragen. Frau Dienstag fragt. Wir werden an einen anderen Schreibtisch verwiesen. Ein junger Mann begrüßt uns freundlich und gibt mir viele Heftchen, seine Karte und sagt ich soll bald mit ihm eine Probefahrt machen. Auweia. Probefahrt. „Aber, aber ich habe erst seit einer Woche meinen Führerschein, ich, äh…“
„Na, das macht doch nichts.“, sagt der junge Mann und ich liebe ihn sofort genauso wie ich den Opel Adam liebe. Glücklich verlassen wir mein Auto und meinen Fachverkäufer.

„Du musst dir aber auch noch den Audi A1 angucken“, sagt Frau Dienstag. „Der ist auch schön.“
„Okay“, sage ich. Aber eigentlich will ich den Audi A1 gar nicht mehr sehen. Aber wenn Frau Dienstag sagt ich muss, dann muss ich.

Frau Dienstag fährt mich nach Hause. es fängt an zu regnen. Ich bin müde aber glücklich. Der Freund wird staunen, was für ein schönes Auto ich mir kaufen will. Ich werde ihm sofort die Kataloge zeigen und wir gucken, was das Auto alles haben soll und dann gucken wir nach einem Jahreswagen oder meinetwegen einem noch älteren Model. Das wird super.

Aber als ich zu Hause bin empfängt mich der Freund mit: „Die Waschmaschine ist eben kaputt gegangen. Ich hab schon im Internet geguckt, was es so gibt. Also die mit einem Trockner drin die sind praktisch, sollen aber schnell kaputt gehen. Komm ich zeig dir mal was es da alles so gibt.“