Irgendwann haben sie alle Heimweh

So, jetzt noch die letzte Stunde, dann Pause und dann Elternabend – what a day… Ich komme die Treppe hoch und was sehe ich da? Zwischen den ganzen Achtklässlern steht Emre. Rapper-Emre, kaum größer, als die auf Englisch wartenden Schüler. Er steht da und telefoniert. Grinst mich an, macht aber keine Anstalten, sein Gespräch zu unterbrechen. Ich schließe meinen Raum auf und die Massen fließen rein. Emre schreitet gemächlich hinter ihnen her. Er beachtet die Schüler gar nicht. Er bewegt sich immer noch so cool und langsam, wie damals, als er in meiner Klasse war. Er telefoniert und guckt sich ganz genau im Raum um. Die Achtklässler starren ihn an. Dann verabschiedet er sich von seinem Telefonpartner, kommt zu mir, begrüßt mich und setzt sich zu mir. Ich frage kurz, wie es ihm geht. Er hat mittlerweile den erweiterten Hauptschulabschluss geschafft, ist aber gerade von der Schule, auf der er den MSA machen wollte abgegangen und wartet jetzt auf einen anderen Schulplatz.

„Und was machst du jetzt den ganzen Tag?“
„Erstmal ausschlafen, dann frühstücken, dann Scrubs gucken, dann rausgehen.“
Ich denke an des bedingungslose Grundeinkommen. Plötzlich bemerke ich die achte Klasse, die uns regungslos beobachtet.
„Emre, willst du dich mal vorstellen?“
Er steht auf, sagt wer er ist, dass ich die beste Lehrerin sei und erzählt kurz, was er nach der Schule gemacht hat. Die Schüler fragen, wie alt er ist und erinnern sich an ihn, weil er ja letztes Jahr in der Schule aufgetreten ist. Sie wollen, dass er rappt. Er guckt mich fragend an. Ich wollte einen Vokabeltest schreiben lassen, aber warum soll er nicht rappen.
„Aber Emre, jugendfreie Texte, okay?“
Er grinst und denkt nach: „Also ohne Ausdrücke…“
Halil springt auf. Halil ist so süß und so klein, dass du ihn eigentlich den ganzen Tag knuddeln willst. Er sieht aus wie erste Klasse. Jetzt reißt er die Arme hoch und ruft: „FRAU FREITAG, WIR SIND NICHT MEHR GRUNDSCHULE. BITTE LASSEN SIE MIT AUSDRÜCKE!“
„Jaaa, bitte mit Ausdrücke!“
Plötzlich schreien sie alle: „Frau Freitag – Frau Freitag – Frau Freitag.“ Damit die Leute draußen nicht denken, ich bin dabei aufs Pult zu steigen und zu strippen, sage ich schnell: „Okay, whatever.“

Emre grinst, sucht seine Beats im Handy und legt los. Ein Liebeslied. Total Ausdrücke-frei. Die Schüler hören genau zu. Sie beobachten jede seiner Bewegungen. Emre hat an seiner Performance gearbeitet. Seine Gestik und Mimik sitzen. Nach dem Song gibt es tosenden Beifall, eine Zugabe und viele Fragen. Emre antwortet und fragt mich dann ob er die Geschichte von seinen gebrochenen Beinen erzählen soll. Ich nicke, denn die hat eine schöne Moral: Verlasse in der Mittagspause nicht das Schulgelände. Vor allem nicht über den Zaun.

„Hannah meldet sich: „Hast du geweint?“
„Ich hab geweint, als sie meine Lieblingshose im Krankenhaus aufgeschnitten haben.“
„Was war das für eine Hose?“, fragt Halil interessiert. Emre kann sich nicht erinnern. Dann ist es Zeit für den Vokabeltest.
„Emre, willst du mitschreiben?“
„Äh, Englisch, naja, da müßte ich mir erstmal die Vokabeln angucken. Ich zeige sie ihm.
„Oh, lieber nicht, ich sehe schon, dass ich davon viele nicht kenne.“
„Na, ist ja auch schon lange her.“
Wir verabschieden uns mit Küssen auf die Wange und er verspricht bald mal wiederzukommen. Dann geht er raus in sein Leben und wir widmen uns dem Vokabeltest.

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